Das gemeine Menschenschicksal, an wel¬ chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬ nigen am schwersten aufliegen, deren Geistes¬ kräfte sich früher und breiter entwickeln. Wir mögen unter dem Schutz von Aeltern und Verwandten emporkommen, wir mögen uns an Geschwister und Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Perso¬ nen beglückt werden; so ist doch immer das Final, daß der Mensch auf sich zurückgewiesen wird, und es scheint, es habe sogar die Gott¬ heit sich so zu dem Menschen gestellt, daß sie dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigstens nicht grade im dringenden Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den hülfsbe¬ dürftigsten Momenten uns zugerufen wird: "Arzt hilf dir selber!" und wie oft hatte ich nicht schmerzlich ausseufzen müssen: "ich trete die Kelter allein!" Indem ich mich also nach Bestätigung der Selbständigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein pro¬
Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬ chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬ nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬ kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬ nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬ heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigſtens nicht grade im dringenden Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬ duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird: „Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach Beſtaͤtigung der Selbſtaͤndigkeit umſah, fand ich als die ſicherſte Baſe derſelben mein pro¬
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0482"n="474"/><p>Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬<lb/>
chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬<lb/>
nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬<lb/>
kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir<lb/>
moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und<lb/>
Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns<lb/>
an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch<lb/>
Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬<lb/>
nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das<lb/>
Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen<lb/>
wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬<lb/>
heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie<lb/>
deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht<lb/>
immer, wenigſtens nicht grade im dringenden<lb/>
Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung<lb/>
genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬<lb/>
duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird:<lb/>„Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich<lb/>
nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete<lb/>
die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach<lb/>
Beſtaͤtigung der Selbſtaͤndigkeit umſah, fand<lb/>
ich als die ſicherſte Baſe derſelben mein pro¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[474/0482]
Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬
chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬
nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬
kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir
moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und
Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns
an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch
Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬
nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das
Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen
wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬
heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie
deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht
immer, wenigſtens nicht grade im dringenden
Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung
genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬
duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird:
„Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich
nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete
die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach
Beſtaͤtigung der Selbſtaͤndigkeit umſah, fand
ich als die ſicherſte Baſe derſelben mein pro¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/482>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.