das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie ausgesprochen. Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz unvermuthet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, höchst unschuldige Meynung, in einem geistlichen Gespräch ganz unbewunden eröffnete, und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬ te. Dieß sey eben, behauptete man mir ent¬ gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum Unglück der neueren Zeit, wolle diese verderbliche Lehre wieder um sich greifen. Ich war hierüber erstaunt, ja erschrocken. Ich ging in die Kirchengeschichte zurück, be¬ trachtete die Lehre und die Schicksale des Pe¬ lagius näher, und sah nun deutlich, wie diese beyden unvereinbaren Meynungen durch Jahrhunderte hin und hergewogt, und von den Menschen, je nachdem sie mehr thätiger oder leidender Natur gewesen, aufgenommen und bekannt worden.
das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen, als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬ te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬ gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe verderbliche Lehre wieder um ſich greifen. Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken. Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬ trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬ lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch Jahrhunderte hin und hergewogt, und von den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger oder leidender Natur geweſen, aufgenommen und bekannt worden.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0474"n="466"/>
das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie<lb/>
ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde<lb/>
ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen,<lb/>
als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt<lb/>
unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen<lb/>
Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und<lb/>
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬<lb/>
te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬<lb/>
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade<lb/>
zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe<lb/>
verderbliche Lehre wieder um ſich greifen.<lb/>
Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken.<lb/>
Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬<lb/>
trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬<lb/>
lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie<lb/>
dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch<lb/>
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von<lb/>
den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger<lb/>
oder leidender Natur geweſen, aufgenommen<lb/>
und bekannt worden.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[466/0474]
das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie
ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde
ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen,
als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt
unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen
Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬
te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade
zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe
verderbliche Lehre wieder um ſich greifen.
Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken.
Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬
trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬
lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie
dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von
den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger
oder leidender Natur geweſen, aufgenommen
und bekannt worden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/474>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.