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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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ganzes Nachdenken. Uneigennützig zu seyn in
allem, am uneigennützigsten in Liebe und
Freundschaft, war meine höchste Lust, meine
Maxime, meine Ausübung, so daß jenes
freche spätere Wort "Wenn ich dich liebe,
was geht's dich an?" mir recht aus dem
Herzen gesprochen ist. Uebrigens möge auch
hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die
innigsten Verbindungen nur aus dem Entge¬
gengesetzten folgen. Die alles ausgleichende
Ruhe Spinoza's contrastirte mit meinem alles
aufregenden Streben, seine mathematische Me¬
thode war das Widerspiel meiner poetischen
Sinnes- und Darstellungsweise, und eben
jene geregelte Behandlungsart, die man sitt¬
lichen Gegenständen nicht angemessen finden
wollte, machte mich zu seinem leidenschaftli¬
chen Schüler, zu seinem entschiedensten Ver¬
ehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn
suchten sich mit nothwendiger Wahlverwand¬
schaft, und durch diese kam die Vereinigung
der verschiedensten Wesen zu Stande.

ganzes Nachdenken. Uneigennuͤtzig zu ſeyn in
allem, am uneigennuͤtzigſten in Liebe und
Freundſchaft, war meine hoͤchſte Luſt, meine
Maxime, meine Ausuͤbung, ſo daß jenes
freche ſpaͤtere Wort „Wenn ich dich liebe,
was geht's dich an?“ mir recht aus dem
Herzen geſprochen iſt. Uebrigens moͤge auch
hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die
innigſten Verbindungen nur aus dem Entge¬
gengeſetzten folgen. Die alles ausgleichende
Ruhe Spinoza's contraſtirte mit meinem alles
aufregenden Streben, ſeine mathematiſche Me¬
thode war das Widerſpiel meiner poetiſchen
Sinnes- und Darſtellungsweiſe, und eben
jene geregelte Behandlungsart, die man ſitt¬
lichen Gegenſtaͤnden nicht angemeſſen finden
wollte, machte mich zu ſeinem leidenſchaftli¬
chen Schuͤler, zu ſeinem entſchiedenſten Ver¬
ehrer. Geiſt und Herz, Verſtand und Sinn
ſuchten ſich mit nothwendiger Wahlverwand¬
ſchaft, und durch dieſe kam die Vereinigung
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[442/0450] ganzes Nachdenken. Uneigennuͤtzig zu ſeyn in allem, am uneigennuͤtzigſten in Liebe und Freundſchaft, war meine hoͤchſte Luſt, meine Maxime, meine Ausuͤbung, ſo daß jenes freche ſpaͤtere Wort „Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?“ mir recht aus dem Herzen geſprochen iſt. Uebrigens moͤge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigſten Verbindungen nur aus dem Entge¬ gengeſetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinoza's contraſtirte mit meinem alles aufregenden Streben, ſeine mathematiſche Me¬ thode war das Widerſpiel meiner poetiſchen Sinnes- und Darſtellungsweiſe, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man ſitt¬ lichen Gegenſtaͤnden nicht angemeſſen finden wollte, machte mich zu ſeinem leidenſchaftli¬ chen Schuͤler, zu ſeinem entſchiedenſten Ver¬ ehrer. Geiſt und Herz, Verſtand und Sinn ſuchten ſich mit nothwendiger Wahlverwand¬ ſchaft, und durch dieſe kam die Vereinigung der verſchiedenſten Weſen zu Stande.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/450>, abgerufen am 23.11.2024.