meiner Zuhörer erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬ mals zu einer Vergleichung genöthigt zu seyn. Hatten sie zu Raymond und Melusine comi¬ sche Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst in einem Spiegel, der keines¬ wegs verhäßlichte. Man gestand sich's nicht ausdrücklich, aber man verleugnete es nicht, daß man sich unter Geistes- und Gefühlsver¬ wandten bewege.
Alle Menschen guter Art empfinden bey zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Ge¬ fühl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen. Was uns für eine wirkliche zugetheilt sey, er¬ fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte betrifft, darüber können wir selten in's Klare kommen. Der Mensch mag seine höhere Be¬ stimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen,
meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬ mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn. Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬ ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬ wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht, daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬ wandten bewege.
Alle Menſchen guter Art empfinden bey zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬ fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen. Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬ fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬ ſtimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft ſuchen,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0045"n="37"/>
meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und<lb/>
es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬<lb/>
mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn.<lb/>
Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬<lb/>ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie<lb/>
hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬<lb/>
wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht<lb/>
ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht,<lb/>
daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬<lb/>
wandten bewege.</p><lb/><p>Alle Menſchen guter Art empfinden bey<lb/>
zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt<lb/>
eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine<lb/>
wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬<lb/>
fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen.<lb/>
Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬<lb/>
fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte<lb/>
betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare<lb/>
kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬<lb/>ſtimmung auf Erden oder im Himmel, in<lb/>
der Gegenwart oder in der Zukunft ſuchen,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[37/0045]
meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und
es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬
mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn.
Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬
ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie
hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬
wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht
ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht,
daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬
wandten bewege.
Alle Menſchen guter Art empfinden bey
zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt
eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine
wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬
fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen.
Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬
fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte
betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare
kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬
ſtimmung auf Erden oder im Himmel, in
der Gegenwart oder in der Zukunft ſuchen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/45>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.