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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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urtheilen, so muß er sich von dem Werth sei¬
ner Mitbürger vor allen Dingen überzeugen,
er muß sie kennen lernen, er muß sich nach
ihren Gesinnungen, nach ihren Kräften um¬
thun, und so, indem er andere zu erforschen
trachtet, immer in seinen eignen Busen zu¬
rückkehren.

In solchen Verhältnissen übte sich Lavater
früh, und eben diese Lebensthätigkeit scheint
ihn mehr beschäftigt zu haben als Sprachstu¬
dien, als jene sondernde Critik, die mit ih¬
nen verwandt, ihr Grund so wie ihr Ziel
ist. In späteren Jahren, da sich seine Kennt¬
nisse, seine Einsichten unendlich weit ausge¬
breitet hatten, sprach er doch im Ernst und
Scherz oft genug aus, daß er nicht gelehrt
sey; und gerade einem solchen Mangel von
eindringendem Studium muß man zuschrei¬
ben, daß er sich an den Buchstaben der Bi¬
bel ja der Bibelübersetzung hielt, und frey¬
lich für das was er suchte und beabsichtigte

urtheilen, ſo muß er ſich von dem Werth ſei¬
ner Mitbuͤrger vor allen Dingen uͤberzeugen,
er muß ſie kennen lernen, er muß ſich nach
ihren Geſinnungen, nach ihren Kraͤften um¬
thun, und ſo, indem er andere zu erforſchen
trachtet, immer in ſeinen eignen Buſen zu¬
ruͤckkehren.

In ſolchen Verhaͤltniſſen uͤbte ſich Lavater
fruͤh, und eben dieſe Lebensthaͤtigkeit ſcheint
ihn mehr beſchaͤftigt zu haben als Sprachſtu¬
dien, als jene ſondernde Critik, die mit ih¬
nen verwandt, ihr Grund ſo wie ihr Ziel
iſt. In ſpaͤteren Jahren, da ſich ſeine Kennt¬
niſſe, ſeine Einſichten unendlich weit ausge¬
breitet hatten, ſprach er doch im Ernſt und
Scherz oft genug aus, daß er nicht gelehrt
ſey; und gerade einem ſolchen Mangel von
eindringendem Studium muß man zuſchrei¬
ben, daß er ſich an den Buchſtaben der Bi¬
bel ja der Bibeluͤberſetzung hielt, und frey¬
lich fuͤr das was er ſuchte und beabſichtigte

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[399/0407] urtheilen, ſo muß er ſich von dem Werth ſei¬ ner Mitbuͤrger vor allen Dingen uͤberzeugen, er muß ſie kennen lernen, er muß ſich nach ihren Geſinnungen, nach ihren Kraͤften um¬ thun, und ſo, indem er andere zu erforſchen trachtet, immer in ſeinen eignen Buſen zu¬ ruͤckkehren. In ſolchen Verhaͤltniſſen uͤbte ſich Lavater fruͤh, und eben dieſe Lebensthaͤtigkeit ſcheint ihn mehr beſchaͤftigt zu haben als Sprachſtu¬ dien, als jene ſondernde Critik, die mit ih¬ nen verwandt, ihr Grund ſo wie ihr Ziel iſt. In ſpaͤteren Jahren, da ſich ſeine Kennt¬ niſſe, ſeine Einſichten unendlich weit ausge¬ breitet hatten, ſprach er doch im Ernſt und Scherz oft genug aus, daß er nicht gelehrt ſey; und gerade einem ſolchen Mangel von eindringendem Studium muß man zuſchrei¬ ben, daß er ſich an den Buchſtaben der Bi¬ bel ja der Bibeluͤberſetzung hielt, und frey¬ lich fuͤr das was er ſuchte und beabſichtigte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/407>, abgerufen am 24.11.2024.