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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Genug, jene oben im Allgemeinen erwähn¬
ten, ernsten und die menschliche Natur unter¬
grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die
wir uns vor allen andern aussuchten, der ei¬
ne, nach seiner Gemüthsart, die leichtere ele¬
gische Trauer, der andere die schwer lastende,
alles aufgebende Verzweiflung suchend. Son¬
derbar genug bestärkte unser Vater und Leh¬
rer Shakspeare, der so reine Heiterkeit zu
verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Ham¬
let und seine Monologen blieben Gespenster,
die durch alle jungen Gemüther ihren Spuk
trieben. Die Hauptstellen wußte ein Jeder
auswendig und recitirte sie gern, und Jeder¬
man glaubte, er dürfe eben so melancholisch
seyn, als der Prinz von Dänemark, ob er
gleich keinen Geist gesehn und keinen königli¬
chen Vater zu rächen hatte.

Damit aber ja allem diesem Trübsinn nicht
ein vollkommen passendes Local abgehe, so hat¬
te uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt,

Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬
ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬
grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die
wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬
ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬
giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende,
alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬
derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬
rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu
verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬
let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter,
die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk
trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder
auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬
man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch
ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er
gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬
chen Vater zu raͤchen hatte.

Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht
ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬
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[331/0339] Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬ ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬ grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬ ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬ giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende, alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬ derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬ rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬ let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter, die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬ man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬ chen Vater zu raͤchen hatte. Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬ te uns Oſſian bis ans letzte Thule gelockt,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/339>, abgerufen am 23.11.2024.