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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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des Volks gemäß, vor welchem man spielt.
Aus dieser unmittelbaren Anwendbarkeit ent¬
springt der große Beyfall, dessen sie sich je¬
derzeit zu erfreuen haben. Diese waren im¬
mer im südlichen Deutschland zu Hause, wo
man sie bis auf den heutigen Tag beybehält,
und nur von Zeit zu Zeit dem Character der
possenhaften Masken einige Veränderung zu
geben, durch den Personenwechsel genöthigt
ist. Doch nahm das deutsche Theater, dem
ernsten Character der Nation gemäß, sehr
bald eine Wendung nach dem Sittlichen, wel¬
che durch eine äußere Veranlassung noch mehr
beschleunigt ward. Unter den strengen Chri¬
sten entstand nämlich die Frage, ob das Thea¬
ter zu den sündlichen und auf alle Fälle zu
vermeidenden Dinge gehöre, oder zu den
gleichgültigen, welche dem Guten gut, und
nur dem Bösen bös werden könnten. Stren¬
ge Eiferer verneinten das Letztere, und hiel¬
ten fest darüber, daß kein Geistlicher je ins
Theater gehen solle. Nun konnte die Gegen¬

des Volks gemaͤß, vor welchem man ſpielt.
Aus dieſer unmittelbaren Anwendbarkeit ent¬
ſpringt der große Beyfall, deſſen ſie ſich je¬
derzeit zu erfreuen haben. Dieſe waren im¬
mer im ſuͤdlichen Deutſchland zu Hauſe, wo
man ſie bis auf den heutigen Tag beybehaͤlt,
und nur von Zeit zu Zeit dem Character der
poſſenhaften Masken einige Veraͤnderung zu
geben, durch den Perſonenwechſel genoͤthigt
iſt. Doch nahm das deutſche Theater, dem
ernſten Character der Nation gemaͤß, ſehr
bald eine Wendung nach dem Sittlichen, wel¬
che durch eine aͤußere Veranlaſſung noch mehr
beſchleunigt ward. Unter den ſtrengen Chri¬
ſten entſtand naͤmlich die Frage, ob das Thea¬
ter zu den ſuͤndlichen und auf alle Faͤlle zu
vermeidenden Dinge gehoͤre, oder zu den
gleichguͤltigen, welche dem Guten gut, und
nur dem Boͤſen boͤs werden koͤnnten. Stren¬
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[294/0302] des Volks gemaͤß, vor welchem man ſpielt. Aus dieſer unmittelbaren Anwendbarkeit ent¬ ſpringt der große Beyfall, deſſen ſie ſich je¬ derzeit zu erfreuen haben. Dieſe waren im¬ mer im ſuͤdlichen Deutſchland zu Hauſe, wo man ſie bis auf den heutigen Tag beybehaͤlt, und nur von Zeit zu Zeit dem Character der poſſenhaften Masken einige Veraͤnderung zu geben, durch den Perſonenwechſel genoͤthigt iſt. Doch nahm das deutſche Theater, dem ernſten Character der Nation gemaͤß, ſehr bald eine Wendung nach dem Sittlichen, wel¬ che durch eine aͤußere Veranlaſſung noch mehr beſchleunigt ward. Unter den ſtrengen Chri¬ ſten entſtand naͤmlich die Frage, ob das Thea¬ ter zu den ſuͤndlichen und auf alle Faͤlle zu vermeidenden Dinge gehoͤre, oder zu den gleichguͤltigen, welche dem Guten gut, und nur dem Boͤſen boͤs werden koͤnnten. Stren¬ ge Eiferer verneinten das Letztere, und hiel¬ ten feſt daruͤber, daß kein Geiſtlicher je ins Theater gehen ſolle. Nun konnte die Gegen¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/302>, abgerufen am 23.11.2024.