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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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im Ganzen loben oder tadeln könne; beson¬
ders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse
Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬
den, so hoch erhebt und rühmt, andere dage¬
gen schilt und niederdrückt. Die Kehle der
Nachtigall wird durch das Frühjahr aufgeregt,
zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks.
Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl
thun, und die Mücken, welche dem Gefühl
so verdrießlich fallen, werden durch eben die
Sonnenwärme hervorgerufen; beherzigte man
dieß, so würde man dieselbigen Klagen nicht
alle zehn Jahre wieder erneuert hören, und
die vergebliche Mühe, dieses und jenes Mis¬
fällige auszurotten, würde nicht so oft ver¬
schwendet werden." Die Gesellschaft sah mich
mit Verwunderung an, woher mir so viele
Weisheit und so viele Toleranz käme? Ich
aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen
Erscheinungen mit Naturproducten zu verglei¬
chen, und ich weiß nicht, wie ich sogar auf
die Melusken kam, und allerley Wunderliches

im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬
ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe
Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬
den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬
gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der
Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt,
zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks.
Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl
thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl
ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die
Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man
dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht
alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und
die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬
faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬
ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich
mit Verwunderung an, woher mir ſo viele
Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich
aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen
Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬
chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf
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[247/0255] im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬ ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬ den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬ gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬ faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬ ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich mit Verwunderung an, woher mir ſo viele Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬ chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf die Melusken kam, und allerley Wunderliches

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/255>, abgerufen am 27.11.2024.