Was die Alten über diese wichtigen Ge¬ genstände gesagt, hatte ich seit einigen Jah¬ ren fleißig, wo nicht in einer Folge studirt, doch sprungweise gelesen. Aristoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle diese Män¬ ner setzten eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie führten mich in eine an Kunst¬ werken unendlich reiche Welt, sie entwickelten die Verdienste vortrefflicher Dichter und Red¬ ner, von deren meisten uns nur die Namen übrig geblieben sind, und überzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erst eine große Fülle von Gegenständen vor uns liegen müsse, ehe man darüber denken könne, daß man erst selbst etwas leisten, ja daß man fehlen müsse, um seine eignen Fähigkeiten und die der an¬ dern kennen zu lernen. Meine Bekanntschaft mit so vielem Guten jener alten Zeiten war doch immer nur schul- und buchmäßig und keineswegs lebendig, da es doch, besonders bey den gerühmtesten Rednern, auffiel, daß
Was die Alten uͤber dieſe wichtigen Ge¬ genſtaͤnde geſagt, hatte ich ſeit einigen Jah¬ ren fleißig, wo nicht in einer Folge ſtudirt, doch ſprungweiſe geleſen. Ariſtoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle dieſe Maͤn¬ ner ſetzten eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie fuͤhrten mich in eine an Kunſt¬ werken unendlich reiche Welt, ſie entwickelten die Verdienſte vortrefflicher Dichter und Red¬ ner, von deren meiſten uns nur die Namen uͤbrig geblieben ſind, und uͤberzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erſt eine große Fuͤlle von Gegenſtaͤnden vor uns liegen muͤſſe, ehe man daruͤber denken koͤnne, daß man erſt ſelbſt etwas leiſten, ja daß man fehlen muͤſſe, um ſeine eignen Faͤhigkeiten und die der an¬ dern kennen zu lernen. Meine Bekanntſchaft mit ſo vielem Guten jener alten Zeiten war doch immer nur ſchul- und buchmaͤßig und keineswegs lebendig, da es doch, beſonders bey den geruͤhmteſten Rednern, auffiel, daß
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ren fleißig, wo nicht in einer Folge ſtudirt,
doch ſprungweiſe geleſen. Ariſtoteles, Cicero,
Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet,
aber das half mir nichts: denn alle dieſe Maͤn¬
ner ſetzten eine Erfahrung voraus, die mir
abging. Sie fuͤhrten mich in eine an Kunſt¬
werken unendlich reiche Welt, ſie entwickelten
die Verdienſte vortrefflicher Dichter und Red¬
ner, von deren meiſten uns nur die Namen
uͤbrig geblieben ſind, und uͤberzeugten mich
nur allzu lebhaft, daß erſt eine große Fuͤlle
von Gegenſtaͤnden vor uns liegen muͤſſe, ehe
man daruͤber denken koͤnne, daß man erſt
ſelbſt etwas leiſten, ja daß man fehlen muͤſſe,
um ſeine eignen Faͤhigkeiten und die der an¬
dern kennen zu lernen. Meine Bekanntſchaft
mit ſo vielem Guten jener alten Zeiten war
doch immer nur ſchul- und buchmaͤßig und
keineswegs lebendig, da es doch, beſonders
bey den geruͤhmteſten Rednern, auffiel, daß
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/234>, abgerufen am 27.11.2024.
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