Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

spenste schauderten. Der Verfasser glaubt sein
Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in
der Vorrede versichert, daß er, als ein abge¬
lebter Greis, so eben in die Grube steigend,
der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬
künden wolle.

Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten
bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬
gentlich an der Welt nichts geschätzt werde,
was liebenswürdig und gut an ihr ist. "Alte
"Kirchen haben dunkle Gläser! -- Wie Kir¬
"schen und Beeren schmecken, muß man Kin¬
"der und Sperlinge fragen!" dieß waren
unsere Lust- und Leibworte; und so schien uns
jenes Buch, als die rechte Quintessenz der
Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt.
Alles sollte nothwendig seyn und deswegen
kein Gott. Könnte es denn aber nicht auch
nothwendig einen Gott geben? fragten wir.
Dabey gestanden wir freylich, daß wir uns
den Nothwendigkeiten der Tage und Nächte,

ſpenſte ſchauderten. Der Verfaſſer glaubt ſein
Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in
der Vorrede verſichert, daß er, als ein abge¬
lebter Greis, ſo eben in die Grube ſteigend,
der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬
kuͤnden wolle.

Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten
bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬
gentlich an der Welt nichts geſchaͤtzt werde,
was liebenswuͤrdig und gut an ihr iſt. „Alte
„Kirchen haben dunkle Glaͤſer! — Wie Kir¬
„ſchen und Beeren ſchmecken, muß man Kin¬
„der und Sperlinge fragen!“ dieß waren
unſere Luſt- und Leibworte; und ſo ſchien uns
jenes Buch, als die rechte Quinteſſenz der
Greiſenheit, unſchmackhaft, ja abgeſchmackt.
Alles ſollte nothwendig ſeyn und deswegen
kein Gott. Koͤnnte es denn aber nicht auch
nothwendig einen Gott geben? fragten wir.
Dabey geſtanden wir freylich, daß wir uns
den Nothwendigkeiten der Tage und Naͤchte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0112" n="104"/>
&#x017F;pen&#x017F;te &#x017F;chauderten. Der Verfa&#x017F;&#x017F;er glaubt &#x017F;ein<lb/>
Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in<lb/>
der Vorrede ver&#x017F;ichert, daß er, als ein abge¬<lb/>
lebter Greis, &#x017F;o eben in die Grube &#x017F;teigend,<lb/>
der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬<lb/>
ku&#x0364;nden wolle.</p><lb/>
        <p>Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten<lb/>
bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬<lb/>
gentlich an der Welt nichts ge&#x017F;cha&#x0364;tzt werde,<lb/>
was liebenswu&#x0364;rdig und gut an ihr i&#x017F;t. &#x201E;Alte<lb/>
&#x201E;Kirchen haben dunkle Gla&#x0364;&#x017F;er! &#x2014; Wie Kir¬<lb/>
&#x201E;&#x017F;chen und Beeren &#x017F;chmecken, muß man Kin¬<lb/>
&#x201E;der und Sperlinge fragen!&#x201C; dieß waren<lb/>
un&#x017F;ere Lu&#x017F;t- und Leibworte; und &#x017F;o &#x017F;chien uns<lb/>
jenes Buch, als die rechte Quinte&#x017F;&#x017F;enz der<lb/>
Grei&#x017F;enheit, un&#x017F;chmackhaft, ja abge&#x017F;chmackt.<lb/>
Alles &#x017F;ollte nothwendig &#x017F;eyn und deswegen<lb/>
kein Gott. Ko&#x0364;nnte es denn aber nicht auch<lb/>
nothwendig einen Gott geben? fragten wir.<lb/>
Dabey ge&#x017F;tanden wir freylich, daß wir uns<lb/>
den Nothwendigkeiten der Tage und Na&#x0364;chte,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0112] ſpenſte ſchauderten. Der Verfaſſer glaubt ſein Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in der Vorrede verſichert, daß er, als ein abge¬ lebter Greis, ſo eben in die Grube ſteigend, der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬ kuͤnden wolle. Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬ gentlich an der Welt nichts geſchaͤtzt werde, was liebenswuͤrdig und gut an ihr iſt. „Alte „Kirchen haben dunkle Glaͤſer! — Wie Kir¬ „ſchen und Beeren ſchmecken, muß man Kin¬ „der und Sperlinge fragen!“ dieß waren unſere Luſt- und Leibworte; und ſo ſchien uns jenes Buch, als die rechte Quinteſſenz der Greiſenheit, unſchmackhaft, ja abgeſchmackt. Alles ſollte nothwendig ſeyn und deswegen kein Gott. Koͤnnte es denn aber nicht auch nothwendig einen Gott geben? fragten wir. Dabey geſtanden wir freylich, daß wir uns den Nothwendigkeiten der Tage und Naͤchte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/112
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/112>, abgerufen am 27.11.2024.