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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Blick nach Leipzig. Dort erschien mir Er¬
nesti
als ein helles Licht, auch Morus er¬
regte schon viel Vertrauen. Ich ersann mir
im Stillen einen Gegencursus, oder vielmehr
ich baute ein Luftschloß auf einen ziemlich so¬
liden Grund; und es schien mir sogar roman¬
tisch ehrenvoll, sich seine eigne Lebensbahn vor¬
zuzeichnen, die mir um so weniger phanta¬
stisch vorkam, als Griesbach auf dem ähn¬
lichen Wege schon große Fortschritte gemacht
hatte und deshalb von Jedermann gerühmt
wurde. Die heimliche Freude eines Gefange¬
nen, wenn er seine Ketten abgelöst und die
Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht
größer seyn, als die meine war, indem ich
die Tage schwinden und den October heran¬
nahen sah. Die unfreundliche Jahreszeit, die
bösen Wege, von denen Jedermann zu er¬
zählen wußte, schreckten mich nicht. Der
Gedanke, an einem fremden Orte zu Win¬
terszeit Einstand geben zu müssen, machte
mich nicht trübe; genug ich sah nur meine

Blick nach Leipzig. Dort erſchien mir Er¬
neſti
als ein helles Licht, auch Morus er¬
regte ſchon viel Vertrauen. Ich erſann mir
im Stillen einen Gegencurſus, oder vielmehr
ich baute ein Luftſchloß auf einen ziemlich ſo¬
liden Grund; und es ſchien mir ſogar roman¬
tiſch ehrenvoll, ſich ſeine eigne Lebensbahn vor¬
zuzeichnen, die mir um ſo weniger phanta¬
ſtiſch vorkam, als Griesbach auf dem aͤhn¬
lichen Wege ſchon große Fortſchritte gemacht
hatte und deshalb von Jedermann geruͤhmt
wurde. Die heimliche Freude eines Gefange¬
nen, wenn er ſeine Ketten abgeloͤſt und die
Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht
groͤßer ſeyn, als die meine war, indem ich
die Tage ſchwinden und den October heran¬
nahen ſah. Die unfreundliche Jahreszeit, die
boͤſen Wege, von denen Jedermann zu er¬
zaͤhlen wußte, ſchreckten mich nicht. Der
Gedanke, an einem fremden Orte zu Win¬
terszeit Einſtand geben zu muͤſſen, machte
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[63/0071] Blick nach Leipzig. Dort erſchien mir Er¬ neſti als ein helles Licht, auch Morus er¬ regte ſchon viel Vertrauen. Ich erſann mir im Stillen einen Gegencurſus, oder vielmehr ich baute ein Luftſchloß auf einen ziemlich ſo¬ liden Grund; und es ſchien mir ſogar roman¬ tiſch ehrenvoll, ſich ſeine eigne Lebensbahn vor¬ zuzeichnen, die mir um ſo weniger phanta¬ ſtiſch vorkam, als Griesbach auf dem aͤhn¬ lichen Wege ſchon große Fortſchritte gemacht hatte und deshalb von Jedermann geruͤhmt wurde. Die heimliche Freude eines Gefange¬ nen, wenn er ſeine Ketten abgeloͤſt und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht groͤßer ſeyn, als die meine war, indem ich die Tage ſchwinden und den October heran¬ nahen ſah. Die unfreundliche Jahreszeit, die boͤſen Wege, von denen Jedermann zu er¬ zaͤhlen wußte, ſchreckten mich nicht. Der Gedanke, an einem fremden Orte zu Win¬ terszeit Einſtand geben zu muͤſſen, machte mich nicht truͤbe; genug ich ſah nur meine

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/71>, abgerufen am 24.11.2024.