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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Musterwerke uns näher liegen und das uns,
nebst so herrlichen Originalproductionen, auch
den übrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberse¬
tzungen und Werken der größten Gelehrten
darbietet. Ich las daher viel in dieser Spra¬
che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬
ben die Autoren zu verstehen, weil mir am
buchstäblichen Sinne nichts abging. Ja es
verdroß mich gar sehr, als ich vernahm, Gro¬
tius habe übermüthig geäußert, er lese den
Terenz anders als die Knaben. Glückliche
Beschränkung der Jugend! ja der Menschen
überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke
ihres Daseyns für vollendet halten können,
und weder nach Wahrem noch Falschen, we¬
der nach Hohem noch Tiefen fragen, son¬
dern bloß nach dem, was ihnen gemäß ist.

So hatte ich denn das Lateinische gelernt,
wie das Deutsche, das Französische, das Eng¬
lische, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel
und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬

Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns,
nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch
den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬
tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten
darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬
che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬
ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am
buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es
verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬
tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den
Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche
Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen
uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke
ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen,
und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬
der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬
dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.

So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt,
wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬
liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel
und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬

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[57/0065] Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns, nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬ tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬ che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬ ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬ tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen, und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬ der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬ dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt. So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt, wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬ liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/65>, abgerufen am 21.11.2024.