Musterwerke uns näher liegen und das uns, nebst so herrlichen Originalproductionen, auch den übrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberse¬ tzungen und Werken der größten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieser Spra¬ che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬ ben die Autoren zu verstehen, weil mir am buchstäblichen Sinne nichts abging. Ja es verdroß mich gar sehr, als ich vernahm, Gro¬ tius habe übermüthig geäußert, er lese den Terenz anders als die Knaben. Glückliche Beschränkung der Jugend! ja der Menschen überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseyns für vollendet halten können, und weder nach Wahrem noch Falschen, we¬ der nach Hohem noch Tiefen fragen, son¬ dern bloß nach dem, was ihnen gemäß ist.
So hatte ich denn das Lateinische gelernt, wie das Deutsche, das Französische, das Eng¬ lische, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬
Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns, nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬ tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬ che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬ ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬ tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen, und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬ der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬ dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.
So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt, wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬ liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0065"n="57"/>
Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns,<lb/>
nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch<lb/>
den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬<lb/>
tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten<lb/>
darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬<lb/>
che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬<lb/>
ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am<lb/>
buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es<lb/>
verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬<lb/>
tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den<lb/>
Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche<lb/>
Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen<lb/>
uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke<lb/>
ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen,<lb/>
und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬<lb/>
der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬<lb/>
dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.</p><lb/><p>So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt,<lb/>
wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬<lb/>
liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel<lb/>
und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[57/0065]
Muſterwerke uns naͤher liegen und das uns,
nebſt ſo herrlichen Originalproductionen, auch
den uͤbrigen Erwerb aller Zeiten in Ueberſe¬
tzungen und Werken der groͤßten Gelehrten
darbietet. Ich las daher viel in dieſer Spra¬
che mit großer Leichtigkeit, und durfte glau¬
ben die Autoren zu verſtehen, weil mir am
buchſtaͤblichen Sinne nichts abging. Ja es
verdroß mich gar ſehr, als ich vernahm, Gro¬
tius habe uͤbermuͤthig geaͤußert, er leſe den
Terenz anders als die Knaben. Gluͤckliche
Beſchraͤnkung der Jugend! ja der Menſchen
uͤberhaupt, daß ſie ſich in jedem Augenblicke
ihres Daſeyns fuͤr vollendet halten koͤnnen,
und weder nach Wahrem noch Falſchen, we¬
der nach Hohem noch Tiefen fragen, ſon¬
dern bloß nach dem, was ihnen gemaͤß iſt.
So hatte ich denn das Lateiniſche gelernt,
wie das Deutſche, das Franzoͤſiſche, das Eng¬
liſche, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel
und ohne Begriff. Wer den damaligen Zu¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/65>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.