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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Mensch wirkt alles was er vermag auf den
Menschen durch seine Persönlichkeit, die Ju¬
gend am stärksten auf die Jugend, und hier
entspringen auch die reinsten Wirkungen. Die¬
se sind es, welche die Welt beleben und weder
moralisch noch physisch aussterben lassen. Mir
war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte
Redseligkeit angeerbt; von meiner Mutter die
Gabe, alles was die Einbildungskraft hervor¬
bringen, fassen kann, heiter und kräftig dar¬
zustellen, bekannte Mährchen aufzufrischen,
andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Er¬
zählen zu erfinden. Durch jene väterliche
Mitgift wurde ich der Gesellschaft mehrentheils
unbequem: denn wer mag gern die Meynungen
und Gesinnungen des Andern hören, besonders
eines Jünglings, dessen Urtheil, bey lückenhaf¬
ter Erfahrung, immer unzulänglich erscheint.
Meine Mutter hingegen hatte mich zur gesell¬
schaftlichen Unterhaltung eigentlich recht aus¬
gestattet. Das leerste Mährchen hat für die

Menſch wirkt alles was er vermag auf den
Menſchen durch ſeine Perſoͤnlichkeit, die Ju¬
gend am ſtaͤrkſten auf die Jugend, und hier
entſpringen auch die reinſten Wirkungen. Die¬
ſe ſind es, welche die Welt beleben und weder
moraliſch noch phyſiſch ausſterben laſſen. Mir
war von meinem Vater eine gewiſſe lehrhafte
Redſeligkeit angeerbt; von meiner Mutter die
Gabe, alles was die Einbildungskraft hervor¬
bringen, faſſen kann, heiter und kraͤftig dar¬
zuſtellen, bekannte Maͤhrchen aufzufriſchen,
andere zu erfinden und zu erzaͤhlen, ja im Er¬
zaͤhlen zu erfinden. Durch jene vaͤterliche
Mitgift wurde ich der Geſellſchaft mehrentheils
unbequem: denn wer mag gern die Meynungen
und Geſinnungen des Andern hoͤren, beſonders
eines Juͤnglings, deſſen Urtheil, bey luͤckenhaf¬
ter Erfahrung, immer unzulaͤnglich erſcheint.
Meine Mutter hingegen hatte mich zur geſell¬
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[571/0579] Menſch wirkt alles was er vermag auf den Menſchen durch ſeine Perſoͤnlichkeit, die Ju¬ gend am ſtaͤrkſten auf die Jugend, und hier entſpringen auch die reinſten Wirkungen. Die¬ ſe ſind es, welche die Welt beleben und weder moraliſch noch phyſiſch ausſterben laſſen. Mir war von meinem Vater eine gewiſſe lehrhafte Redſeligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles was die Einbildungskraft hervor¬ bringen, faſſen kann, heiter und kraͤftig dar¬ zuſtellen, bekannte Maͤhrchen aufzufriſchen, andere zu erfinden und zu erzaͤhlen, ja im Er¬ zaͤhlen zu erfinden. Durch jene vaͤterliche Mitgift wurde ich der Geſellſchaft mehrentheils unbequem: denn wer mag gern die Meynungen und Geſinnungen des Andern hoͤren, beſonders eines Juͤnglings, deſſen Urtheil, bey luͤckenhaf¬ ter Erfahrung, immer unzulaͤnglich erſcheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur geſell¬ ſchaftlichen Unterhaltung eigentlich recht aus¬ geſtattet. Das leerſte Maͤhrchen hat fuͤr die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/579>, abgerufen am 24.11.2024.