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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und
Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine
Rast finden. Ich überließ meinen Freund
einem glücklichen Schlafe und suchte das hö¬
her gelegene Jagdschloß. Es blickt weit über
Berg und Wälder hin, deren Umrisse nur
an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, de¬
ren Seiten und Tiefen aber meinem Blick
undurchdringlich waren. So leer als einsam
stand das wohlerhaltene Gebäude; kein Ca¬
stellan, kein Jäger war zu finden. Ich saß
vor den großen Glasthüren auf den Stufen,
die um die ganze Terrasse hergehn. Hier,
mitten im Gebirg, über einer waldbewachse¬
nen finsteren Erde, die gegen den heitern Ho¬
rizont einer Sommernacht nur noch finsterer
erschien, das brennende Sterngewölbe über
mir, saß ich an der verlassenen Stätte lange
mit mir selbst und glaubte niemals eine solche
Einsamkeit empfunden zu haben. Wie lieb¬
lich überraschte mich daher aus der Ferne der
Ton von ein Paar Waldhörnern, der auf

Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und
Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine
Raſt finden. Ich uͤberließ meinen Freund
einem gluͤcklichen Schlafe und ſuchte das hoͤ¬
her gelegene Jagdſchloß. Es blickt weit uͤber
Berg und Waͤlder hin, deren Umriſſe nur
an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, de¬
ren Seiten und Tiefen aber meinem Blick
undurchdringlich waren. So leer als einſam
ſtand das wohlerhaltene Gebaͤude; kein Ca¬
ſtellan, kein Jaͤger war zu finden. Ich ſaß
vor den großen Glasthuͤren auf den Stufen,
die um die ganze Terraſſe hergehn. Hier,
mitten im Gebirg, uͤber einer waldbewachſe¬
nen finſteren Erde, die gegen den heitern Ho¬
rizont einer Sommernacht nur noch finſterer
erſchien, das brennende Sterngewoͤlbe uͤber
mir, ſaß ich an der verlaſſenen Staͤtte lange
mit mir ſelbſt und glaubte niemals eine ſolche
Einſamkeit empfunden zu haben. Wie lieb¬
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[510/0518] Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine Raſt finden. Ich uͤberließ meinen Freund einem gluͤcklichen Schlafe und ſuchte das hoͤ¬ her gelegene Jagdſchloß. Es blickt weit uͤber Berg und Waͤlder hin, deren Umriſſe nur an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, de¬ ren Seiten und Tiefen aber meinem Blick undurchdringlich waren. So leer als einſam ſtand das wohlerhaltene Gebaͤude; kein Ca¬ ſtellan, kein Jaͤger war zu finden. Ich ſaß vor den großen Glasthuͤren auf den Stufen, die um die ganze Terraſſe hergehn. Hier, mitten im Gebirg, uͤber einer waldbewachſe¬ nen finſteren Erde, die gegen den heitern Ho¬ rizont einer Sommernacht nur noch finſterer erſchien, das brennende Sterngewoͤlbe uͤber mir, ſaß ich an der verlaſſenen Staͤtte lange mit mir ſelbſt und glaubte niemals eine ſolche Einſamkeit empfunden zu haben. Wie lieb¬ lich uͤberraſchte mich daher aus der Ferne der Ton von ein Paar Waldhoͤrnern, der auf

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/518>, abgerufen am 04.11.2024.