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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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empfunden hatte. Da seine Gespräche jeder¬
zeit bedeutend waren, er mochte fragen, ant¬
worten oder sich sonst auf eine Weise mit¬
theilen; so mußte er mich zu neuen Ansich¬
ten täglich, ja stündlich befördern. In Leip¬
zig hatte ich mir eher ein enges und abgezir¬
keltes Wesen angewöhnt, und meine allge¬
meinen Kenntnisse der deutschen Litteratur
konnten durch meinen Frankfurter Zustand
nicht erweitert werden; ja mich hatten jene
mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen
in dunkle Regionen geführt, und was seit ei¬
nigen Jahren in der weiten literarischen Welt
vorgegangen, war mir meistens fremd geblie¬
ben. Nun wurde ich auf einmal durch Her¬
der mit allem neuen Streben und mit allen
den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu
nehmen schien. Er selbst hatte sich schon ge¬
nugsam berühmt gemacht, und durch seine
Fragmente, die kritischen Wälder
und anderes unmittelbar an die Seite der vor¬
züglichsten Männer gesetzt, welche seit länge¬

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empfunden hatte. Da ſeine Geſpraͤche jeder¬
zeit bedeutend waren, er mochte fragen, ant¬
worten oder ſich ſonſt auf eine Weiſe mit¬
theilen; ſo mußte er mich zu neuen Anſich¬
ten taͤglich, ja ſtuͤndlich befoͤrdern. In Leip¬
zig hatte ich mir eher ein enges und abgezir¬
keltes Weſen angewoͤhnt, und meine allge¬
meinen Kenntniſſe der deutſchen Litteratur
konnten durch meinen Frankfurter Zuſtand
nicht erweitert werden; ja mich hatten jene
myſtiſch-religioͤſen chemiſchen Beſchaͤftigungen
in dunkle Regionen gefuͤhrt, und was ſeit ei¬
nigen Jahren in der weiten literariſchen Welt
vorgegangen, war mir meiſtens fremd geblie¬
ben. Nun wurde ich auf einmal durch Her¬
der mit allem neuen Streben und mit allen
den Richtungen bekannt, welche daſſelbe zu
nehmen ſchien. Er ſelbſt hatte ſich ſchon ge¬
nugſam beruͤhmt gemacht, und durch ſeine
Fragmente, die kritiſchen Waͤlder
und anderes unmittelbar an die Seite der vor¬
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[467/0475] empfunden hatte. Da ſeine Geſpraͤche jeder¬ zeit bedeutend waren, er mochte fragen, ant¬ worten oder ſich ſonſt auf eine Weiſe mit¬ theilen; ſo mußte er mich zu neuen Anſich¬ ten taͤglich, ja ſtuͤndlich befoͤrdern. In Leip¬ zig hatte ich mir eher ein enges und abgezir¬ keltes Weſen angewoͤhnt, und meine allge¬ meinen Kenntniſſe der deutſchen Litteratur konnten durch meinen Frankfurter Zuſtand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene myſtiſch-religioͤſen chemiſchen Beſchaͤftigungen in dunkle Regionen gefuͤhrt, und was ſeit ei¬ nigen Jahren in der weiten literariſchen Welt vorgegangen, war mir meiſtens fremd geblie¬ ben. Nun wurde ich auf einmal durch Her¬ der mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche daſſelbe zu nehmen ſchien. Er ſelbſt hatte ſich ſchon ge¬ nugſam beruͤhmt gemacht, und durch ſeine Fragmente, die kritiſchen Waͤlder und anderes unmittelbar an die Seite der vor¬ zuͤglichſten Maͤnner geſetzt, welche ſeit laͤnge¬ 30 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/475>, abgerufen am 25.11.2024.