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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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mußte es ansehen, ich ertrug's; ich weiß
aber wie viele tausend Thränen es mich ge¬
kostet hat. Diesen hast Du mir nun auch
weggefangen, ohne jenen fahren zu lassen,
und wie viele verstehst Du nicht auf einmal
zu halten. Ich bin offen und gutmüthig,
und Jedermann glaubt mich bald zu kennen
und mich vernachlässigen zu dürfen; Du bist
versteckt und still, und die Leute glauben
Wunder was hinter dir verborgen sey. Aber
es ist nichts dahinter als ein kaltes, selbsti¬
sches Herz, das sich alles aufzuopfern weiß;
das aber kennt Niemand so leicht, weil es
tief in Deiner Brust verborgen liegt, so wenig
als mein warmes treues Herz, das ich offen
trage, wie mein Gesicht.

Emilie schwieg und hatte sich neben ihre
Schwester gesetzt, die sich im Reden immer
mehr erhitzte, und sich über gewisse besondere
Dinge herausließ, die mir zu wissen eigent¬

mußte es anſehen, ich ertrug's; ich weiß
aber wie viele tauſend Thraͤnen es mich ge¬
koſtet hat. Dieſen haſt Du mir nun auch
weggefangen, ohne jenen fahren zu laſſen,
und wie viele verſtehſt Du nicht auf einmal
zu halten. Ich bin offen und gutmuͤthig,
und Jedermann glaubt mich bald zu kennen
und mich vernachlaͤſſigen zu duͤrfen; Du biſt
verſteckt und ſtill, und die Leute glauben
Wunder was hinter dir verborgen ſey. Aber
es iſt nichts dahinter als ein kaltes, ſelbſti¬
ſches Herz, das ſich alles aufzuopfern weiß;
das aber kennt Niemand ſo leicht, weil es
tief in Deiner Bruſt verborgen liegt, ſo wenig
als mein warmes treues Herz, das ich offen
trage, wie mein Geſicht.

Emilie ſchwieg und hatte ſich neben ihre
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mehr erhitzte, und ſich uͤber gewiſſe beſondere
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[442/0450] mußte es anſehen, ich ertrug's; ich weiß aber wie viele tauſend Thraͤnen es mich ge¬ koſtet hat. Dieſen haſt Du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu laſſen, und wie viele verſtehſt Du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmuͤthig, und Jedermann glaubt mich bald zu kennen und mich vernachlaͤſſigen zu duͤrfen; Du biſt verſteckt und ſtill, und die Leute glauben Wunder was hinter dir verborgen ſey. Aber es iſt nichts dahinter als ein kaltes, ſelbſti¬ ſches Herz, das ſich alles aufzuopfern weiß; das aber kennt Niemand ſo leicht, weil es tief in Deiner Bruſt verborgen liegt, ſo wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Geſicht. Emilie ſchwieg und hatte ſich neben ihre Schweſter geſetzt, die ſich im Reden immer mehr erhitzte, und ſich uͤber gewiſſe beſondere Dinge herausließ, die mir zu wiſſen eigent¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/450>, abgerufen am 22.11.2024.