man ruhig rechts und links liegen und fallen lassen, und kann versichert seyn, daß nicht allein dieses wieder aufgefunden und aufgeho¬ ben werden muß, sondern daß auch noch gar manches Verwandte, das man nie berührt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vor¬ schein kommen werde. Sehen wir nun wäh¬ rend unseres Lebensganges dasjenige von An¬ dern geleistet, wozu wir selbst früher einen Beruf fühlten, ihn aber, mit manchem An¬ dern, aufgeben mußten; dann tritt das schö¬ ne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der Ein¬ zelne nur froh und glücklich seyn kann, wenn er den Muth hat, sich im Ganzen zu fühlen.
Diese Betrachtung ist hier recht am Pla¬ tze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Straßburger Münster gewidmet, die Aufmerk¬ samkeit, mit der ich späterhin den Dom zu
man ruhig rechts und links liegen und fallen laſſen, und kann verſichert ſeyn, daß nicht allein dieſes wieder aufgefunden und aufgeho¬ ben werden muß, ſondern daß auch noch gar manches Verwandte, das man nie beruͤhrt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vor¬ ſchein kommen werde. Sehen wir nun waͤh¬ rend unſeres Lebensganges dasjenige von An¬ dern geleiſtet, wozu wir ſelbſt fruͤher einen Beruf fuͤhlten, ihn aber, mit manchem An¬ dern, aufgeben mußten; dann tritt das ſchoͤ¬ ne Gefuͤhl ein, daß die Menſchheit zuſammen erſt der wahre Menſch iſt, und daß der Ein¬ zelne nur froh und gluͤcklich ſeyn kann, wenn er den Muth hat, ſich im Ganzen zu fuͤhlen.
Dieſe Betrachtung iſt hier recht am Pla¬ tze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Straßburger Muͤnſter gewidmet, die Aufmerk¬ ſamkeit, mit der ich ſpaͤterhin den Dom zu
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man ruhig rechts und links liegen und fallen
laſſen, und kann verſichert ſeyn, daß nicht
allein dieſes wieder aufgefunden und aufgeho¬
ben werden muß, ſondern daß auch noch gar
manches Verwandte, das man nie beruͤhrt,
ja woran man nie gedacht hat, zum Vor¬
ſchein kommen werde. Sehen wir nun waͤh¬
rend unſeres Lebensganges dasjenige von An¬
dern geleiſtet, wozu wir ſelbſt fruͤher einen
Beruf fuͤhlten, ihn aber, mit manchem An¬
dern, aufgeben mußten; dann tritt das ſchoͤ¬
ne Gefuͤhl ein, daß die Menſchheit zuſammen
erſt der wahre Menſch iſt, und daß der Ein¬
zelne nur froh und gluͤcklich ſeyn kann, wenn
er den Muth hat, ſich im Ganzen zu fuͤhlen.
Dieſe Betrachtung iſt hier recht am Pla¬
tze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die
mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn
ich die Zeit berechne, die ich allein dem
Straßburger Muͤnſter gewidmet, die Aufmerk¬
ſamkeit, mit der ich ſpaͤterhin den Dom zu
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/429>, abgerufen am 25.11.2024.
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