Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fä¬ higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬ nigen, was wir zu leisten im Stande seyn werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehn¬ sucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine sol¬ che Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwicke¬ lung ein Theil des ersten Wunsches erfüllt, bey günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bey ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem ein¬ lenken. So sieht man Menschen durch Be¬ harrlichkeit zu irdischen Gütern gelangen, sie umgeben sich mit Reichthum, Glanz und äußerer Ehre. Andere streben noch sicherer nach geistigen Vortheilen, erwerben sich eine klare Uebersicht der Dinge, eine Beruhigung
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Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬ higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬ nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬ ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬ che Richtung entſchieden in unſerer Natur, ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬ lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt, bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem ein¬ lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬ harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung
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Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬
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nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn
werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt
ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und
in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬
ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen
beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches
Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in
ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬
che Richtung entſchieden in unſerer Natur,
ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬
lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt,
bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden
Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege,
von dem wir immer wieder nach jenem ein¬
lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬
harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie
umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und
aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer
nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine
klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/427>, abgerufen am 25.11.2024.
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