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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer,
vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬
tersuchte, desto mehr gerieth ich in Erstau¬
nen; jemehr ich mich mit Messen und Zeich¬
nen unterhielt und abmüdete, desto mehr
wuchs meine Anhänglichkeit, so daß ich viele
Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬
dene zu studiren, theils das Fehlende, Unvoll¬
endete, besonders der Thürme, in Gedanken
und auf dem Blatte wiederherzustellen.

Da ich nun an alter deutscher Stätte die¬
ses Gebäude gegründet und in ächter deutscher
Zeit so weit gediehen fand, auch der Name
des Meisters auf dem bescheidenen Grabstein
gleichfalls vaterländischen Klanges und Ur¬
sprungs war; so wagte ich, die bisher ver¬
rufene Benennung Gothische Bauart, aufge¬
fordert durch den Werth dieses Kunstwerks,
abzuändern und sie als deutsche Baukunst un¬
serer Nation zu vindiciren, sodann aber ver¬
fehlte ich nicht, erst mündlich, und hernach

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heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer,
vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬
terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬
nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬
nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr
wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele
Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬
dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬
endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken
und auf dem Blatte wiederherzuſtellen.

Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬
ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher
Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name
des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein
gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬
ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬
rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬
fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks,
abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬
ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬
fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernach

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[417/0425] heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬ terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬ nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬ nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬ dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬ endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzuſtellen. Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬ ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬ ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬ rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬ fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks, abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬ ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬ fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernach II. 27

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/425>, abgerufen am 25.11.2024.