heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬ tersuchte, desto mehr gerieth ich in Erstau¬ nen; jemehr ich mich mit Messen und Zeich¬ nen unterhielt und abmüdete, desto mehr wuchs meine Anhänglichkeit, so daß ich viele Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬ dene zu studiren, theils das Fehlende, Unvoll¬ endete, besonders der Thürme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzustellen.
Da ich nun an alter deutscher Stätte die¬ ses Gebäude gegründet und in ächter deutscher Zeit so weit gediehen fand, auch der Name des Meisters auf dem bescheidenen Grabstein gleichfalls vaterländischen Klanges und Ur¬ sprungs war; so wagte ich, die bisher ver¬ rufene Benennung Gothische Bauart, aufge¬ fordert durch den Werth dieses Kunstwerks, abzuändern und sie als deutsche Baukunst un¬ serer Nation zu vindiciren, sodann aber ver¬ fehlte ich nicht, erst mündlich, und hernach
II. 27
heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬ terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬ nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬ nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬ dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬ endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzuſtellen.
Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬ ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬ ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬ rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬ fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks, abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬ ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬ fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernach
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heiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer,
vom Blatt bis zum Zacken. Jemehr ich un¬
terſuchte, deſto mehr gerieth ich in Erſtau¬
nen; jemehr ich mich mit Meſſen und Zeich¬
nen unterhielt und abmuͤdete, deſto mehr
wuchs meine Anhaͤnglichkeit, ſo daß ich viele
Zeit darauf verwendete, theils das Vorhan¬
dene zu ſtudiren, theils das Fehlende, Unvoll¬
endete, beſonders der Thuͤrme, in Gedanken
und auf dem Blatte wiederherzuſtellen.
Da ich nun an alter deutſcher Staͤtte die¬
ſes Gebaͤude gegruͤndet und in aͤchter deutſcher
Zeit ſo weit gediehen fand, auch der Name
des Meiſters auf dem beſcheidenen Grabſtein
gleichfalls vaterlaͤndiſchen Klanges und Ur¬
ſprungs war; ſo wagte ich, die bisher ver¬
rufene Benennung Gothiſche Bauart, aufge¬
fordert durch den Werth dieſes Kunſtwerks,
abzuaͤndern und ſie als deutſche Baukunſt un¬
ſerer Nation zu vindiciren, ſodann aber ver¬
fehlte ich nicht, erſt muͤndlich, und hernach
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/425>, abgerufen am 25.11.2024.
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