angenehmen Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese in mir kaum durch die seltsamsten und fürchterlichsten Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.
Dieser Bemühung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernsten und Mächtigen zu befreyen, was in mir fortwaltete, und nur bald als Kraft bald als Schwäche er¬ schien, kam durchaus jene freye, gesellige, be¬ wegliche Lebensart zu Hülfe, welche mich im¬ mer mehr anzog, an die ich mich gewöhnte, und zuletzt derselben mit voller Freyheit ge¬ nießen lernte. Es ist in der Welt nicht schwer zu bemerken, daß sich der Mensch am frey¬ sten und am völligsten von seinen Gebrechen los und lebig fühlt, wenn er sich die Män¬ gel Anderer vergegenwärtigt und sich darüber mit behaglichem Tadel verbreitet. Es ist schon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Misbilligung und Misreden über unsers Gleichen hinauszusetzen, weswegen auch
angenehmen Schauer der Jugend zu fuͤhlen, ich dieſe in mir kaum durch die ſeltſamſten und fuͤrchterlichſten Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.
Dieſer Bemuͤhung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernſten und Maͤchtigen zu befreyen, was in mir fortwaltete, und nur bald als Kraft bald als Schwaͤche er¬ ſchien, kam durchaus jene freye, geſellige, be¬ wegliche Lebensart zu Huͤlfe, welche mich im¬ mer mehr anzog, an die ich mich gewoͤhnte, und zuletzt derſelben mit voller Freyheit ge¬ nießen lernte. Es iſt in der Welt nicht ſchwer zu bemerken, daß ſich der Menſch am frey¬ ſten und am voͤlligſten von ſeinen Gebrechen los und lebig fuͤhlt, wenn er ſich die Maͤn¬ gel Anderer vergegenwaͤrtigt und ſich daruͤber mit behaglichem Tadel verbreitet. Es iſt ſchon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Misbilligung und Misreden uͤber unſers Gleichen hinauszuſetzen, weswegen auch
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angenehmen Schauer der Jugend zu fuͤhlen,
ich dieſe in mir kaum durch die ſeltſamſten
und fuͤrchterlichſten Bilder, die ich hervorrief,
wieder einigermaßen erzwingen konnte.
Dieſer Bemuͤhung, mich von dem Drang
und Druck des Allzuernſten und Maͤchtigen
zu befreyen, was in mir fortwaltete, und
nur bald als Kraft bald als Schwaͤche er¬
ſchien, kam durchaus jene freye, geſellige, be¬
wegliche Lebensart zu Huͤlfe, welche mich im¬
mer mehr anzog, an die ich mich gewoͤhnte,
und zuletzt derſelben mit voller Freyheit ge¬
nießen lernte. Es iſt in der Welt nicht ſchwer
zu bemerken, daß ſich der Menſch am frey¬
ſten und am voͤlligſten von ſeinen Gebrechen
los und lebig fuͤhlt, wenn er ſich die Maͤn¬
gel Anderer vergegenwaͤrtigt und ſich daruͤber
mit behaglichem Tadel verbreitet. Es iſt
ſchon eine ziemlich angenehme Empfindung,
uns durch Misbilligung und Misreden uͤber
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/399>, abgerufen am 27.11.2024.
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