daß die Gottheit selbst die Gestalt des Men¬ schen annimmt, die sie sich zu einer Hülle schon vorbereitet hatte, und daß sie die Schick¬ sale desselben auf kurze Zeit theilt, um durch diese Verähnlichung das Erfreuliche zu erhö¬ hen und das Schmerzliche zu mildern. Die Geschichte aller Religionen und Philosophieen lehrt uns, daß diese große, den Menschen un¬ entbehrliche Wahrheit von verschiedenen Na¬ tionen in verschiedenen Zeiten auf mancher¬ ley Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bil¬ dern der Beschränktheit gemäß überliefert wor¬ den; genug wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zustande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu drü¬ cken scheint, dennoch Gelegenheit giebt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Ab¬ sichten der Gottheit dadurch zu erfüllen, daß wir, indem wir von einer Seite uns zu ver¬ selbsten genöthiget sind, von der andern in re¬ gelmäßigen Pulsen uns zu entselbstigen nicht versäumen.
daß die Gottheit ſelbſt die Geſtalt des Men¬ ſchen annimmt, die ſie ſich zu einer Huͤlle ſchon vorbereitet hatte, und daß ſie die Schick¬ ſale deſſelben auf kurze Zeit theilt, um durch dieſe Veraͤhnlichung das Erfreuliche zu erhoͤ¬ hen und das Schmerzliche zu mildern. Die Geſchichte aller Religionen und Philoſophieen lehrt uns, daß dieſe große, den Menſchen un¬ entbehrliche Wahrheit von verſchiedenen Na¬ tionen in verſchiedenen Zeiten auf mancher¬ ley Weiſe, ja in ſeltſamen Fabeln und Bil¬ dern der Beſchraͤnktheit gemaͤß uͤberliefert wor¬ den; genug wenn nur anerkannt wird, daß wir uns in einem Zuſtande befinden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu druͤ¬ cken ſcheint, dennoch Gelegenheit giebt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Ab¬ ſichten der Gottheit dadurch zu erfuͤllen, daß wir, indem wir von einer Seite uns zu ver¬ ſelbſten genoͤthiget ſind, von der andern in re¬ gelmaͤßigen Pulſen uns zu entſelbſtigen nicht verſaͤumen.
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daß die Gottheit ſelbſt die Geſtalt des Men¬
ſchen annimmt, die ſie ſich zu einer Huͤlle
ſchon vorbereitet hatte, und daß ſie die Schick¬
ſale deſſelben auf kurze Zeit theilt, um durch
dieſe Veraͤhnlichung das Erfreuliche zu erhoͤ¬
hen und das Schmerzliche zu mildern. Die
Geſchichte aller Religionen und Philoſophieen
lehrt uns, daß dieſe große, den Menſchen un¬
entbehrliche Wahrheit von verſchiedenen Na¬
tionen in verſchiedenen Zeiten auf mancher¬
ley Weiſe, ja in ſeltſamen Fabeln und Bil¬
dern der Beſchraͤnktheit gemaͤß uͤberliefert wor¬
den; genug wenn nur anerkannt wird, daß
wir uns in einem Zuſtande befinden, der,
wenn er uns auch niederzuziehen und zu druͤ¬
cken ſcheint, dennoch Gelegenheit giebt, ja zur
Pflicht macht, uns zu erheben und die Ab¬
ſichten der Gottheit dadurch zu erfuͤllen, daß
wir, indem wir von einer Seite uns zu ver¬
ſelbſten genoͤthiget ſind, von der andern in re¬
gelmaͤßigen Pulſen uns zu entſelbſtigen nicht
verſaͤumen.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/344>, abgerufen am 24.11.2024.
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