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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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und Ketzergeschichte. Dieser Mann ist nicht
ein bloß reflectirender Historiker, sondern zu¬
gleich fromm und fühlend. Seine Gesinnun¬
gen stimmten sehr zu den meinigen, und was
mich an seinem Werk besonders ergetzte war,
daß ich von manchen Ketzern, die man mir
bisher als toll oder gottlos vorgestellt hatte,
einen vortheilhaftern Begriff erhielt. Der
Geist des Widerspruchs und die Lust zum
Paradoxen steckt in uns allen. Ich studirte
fleißig die verschiedenen Meynungen, und da
ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch
habe am Ende doch seine eigene Religion; so
kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich
mir auch meine eigene bilden könne, und die¬
ses that ich mit vieler Behaglichkeit. Der
neue Platonismus lag zum Grunde; das Her¬
metische, Mystische, Cabbalistische gab auch
seinen Beytrag her, und so erbaute ich mir
eine Welt, die seltsam genug aussah.

Ich mochte mir wohl eine Gottheit vor¬
stellen, die sich von Ewigkeit her selbst produ¬

und Ketzergeſchichte. Dieſer Mann iſt nicht
ein bloß reflectirender Hiſtoriker, ſondern zu¬
gleich fromm und fuͤhlend. Seine Geſinnun¬
gen ſtimmten ſehr zu den meinigen, und was
mich an ſeinem Werk beſonders ergetzte war,
daß ich von manchen Ketzern, die man mir
bisher als toll oder gottlos vorgeſtellt hatte,
einen vortheilhaftern Begriff erhielt. Der
Geiſt des Widerſpruchs und die Luſt zum
Paradoxen ſteckt in uns allen. Ich ſtudirte
fleißig die verſchiedenen Meynungen, und da
ich oft genug hatte ſagen hoͤren, jeder Menſch
habe am Ende doch ſeine eigene Religion; ſo
kam mir nichts natuͤrlicher vor, als daß ich
mir auch meine eigene bilden koͤnne, und die¬
ſes that ich mit vieler Behaglichkeit. Der
neue Platonismus lag zum Grunde; das Her¬
metiſche, Myſtiſche, Cabbaliſtiſche gab auch
ſeinen Beytrag her, und ſo erbaute ich mir
eine Welt, die ſeltſam genug ausſah.

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[330/0338] und Ketzergeſchichte. Dieſer Mann iſt nicht ein bloß reflectirender Hiſtoriker, ſondern zu¬ gleich fromm und fuͤhlend. Seine Geſinnun¬ gen ſtimmten ſehr zu den meinigen, und was mich an ſeinem Werk beſonders ergetzte war, daß ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgeſtellt hatte, einen vortheilhaftern Begriff erhielt. Der Geiſt des Widerſpruchs und die Luſt zum Paradoxen ſteckt in uns allen. Ich ſtudirte fleißig die verſchiedenen Meynungen, und da ich oft genug hatte ſagen hoͤren, jeder Menſch habe am Ende doch ſeine eigene Religion; ſo kam mir nichts natuͤrlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden koͤnne, und die¬ ſes that ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Her¬ metiſche, Myſtiſche, Cabbaliſtiſche gab auch ſeinen Beytrag her, und ſo erbaute ich mir eine Welt, die ſeltſam genug ausſah. Ich mochte mir wohl eine Gottheit vor¬ ſtellen, die ſich von Ewigkeit her ſelbſt produ¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/338>, abgerufen am 24.11.2024.