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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Stadtgeschichten dar, die man sich eben erzähl¬
te und woran man Interesse fand. Das al¬
les war nicht ohne Character und nicht ohne
einen gewissen Geschmack, aber leider fehlte den
Figuren die Proportion und das eigentliche
Mark, so wie denn auch die Ausführung höchst
nebulistisch war. Mein Vater, dem diese
Dinge Vergnügen zu machen fortfuhren, woll¬
te sie deutlicher haben; auch sollte alles fertig
und abgeschlossen seyn. Er ließ sie daher auf¬
ziehen und mit Linien einfassen; ja der
Maler Morgenstern, sein Hauskünstler
-- es ist derselbe, der sich später durch Kir¬
chenprospecte bekannt, ja berühmt gemacht --
mußte die perspektivischen Linien der Zimmer
und Räume hineinziehen, die sich denn frey¬
lich ziemlich grell gegen die nebulistisch ange¬
deuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich
dadurch immer mehr zur Bestimmtheit zu nö¬
thigen, und um ihm gefällig zu seyn zeichne¬
te ich mancherley Stillleben, wo ich, indem
das Wirkliche als Muster vor mir stand, deut¬

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Stadtgeſchichten dar, die man ſich eben erzaͤhl¬
te und woran man Intereſſe fand. Das al¬
les war nicht ohne Character und nicht ohne
einen gewiſſen Geſchmack, aber leider fehlte den
Figuren die Proportion und das eigentliche
Mark, ſo wie denn auch die Ausfuͤhrung hoͤchſt
nebuliſtiſch war. Mein Vater, dem dieſe
Dinge Vergnuͤgen zu machen fortfuhren, woll¬
te ſie deutlicher haben; auch ſollte alles fertig
und abgeſchloſſen ſeyn. Er ließ ſie daher auf¬
ziehen und mit Linien einfaſſen; ja der
Maler Morgenſtern, ſein Hauskuͤnſtler
— es iſt derſelbe, der ſich ſpaͤter durch Kir¬
chenproſpecte bekannt, ja beruͤhmt gemacht —
mußte die perſpektiviſchen Linien der Zimmer
und Raͤume hineinziehen, die ſich denn frey¬
lich ziemlich grell gegen die nebuliſtiſch ange¬
deuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich
dadurch immer mehr zur Beſtimmtheit zu noͤ¬
thigen, und um ihm gefaͤllig zu ſeyn zeichne¬
te ich mancherley Stillleben, wo ich, indem
das Wirkliche als Muſter vor mir ſtand, deut¬

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[323/0331] Stadtgeſchichten dar, die man ſich eben erzaͤhl¬ te und woran man Intereſſe fand. Das al¬ les war nicht ohne Character und nicht ohne einen gewiſſen Geſchmack, aber leider fehlte den Figuren die Proportion und das eigentliche Mark, ſo wie denn auch die Ausfuͤhrung hoͤchſt nebuliſtiſch war. Mein Vater, dem dieſe Dinge Vergnuͤgen zu machen fortfuhren, woll¬ te ſie deutlicher haben; auch ſollte alles fertig und abgeſchloſſen ſeyn. Er ließ ſie daher auf¬ ziehen und mit Linien einfaſſen; ja der Maler Morgenſtern, ſein Hauskuͤnſtler — es iſt derſelbe, der ſich ſpaͤter durch Kir¬ chenproſpecte bekannt, ja beruͤhmt gemacht — mußte die perſpektiviſchen Linien der Zimmer und Raͤume hineinziehen, die ſich denn frey¬ lich ziemlich grell gegen die nebuliſtiſch ange¬ deuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich dadurch immer mehr zur Beſtimmtheit zu noͤ¬ thigen, und um ihm gefaͤllig zu ſeyn zeichne¬ te ich mancherley Stillleben, wo ich, indem das Wirkliche als Muſter vor mir ſtand, deut¬ 21 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/331>, abgerufen am 24.11.2024.