einem unbekannten Heile strebendes Wesen, das, ob es sich gleich nicht für außerordentlich sünd¬ haft halten konnte, sich doch in keinem behag¬ lichen Zustand befand, und weder an Leib noch Seele ganz gesund war. Sie erfreute sich an dem, was mir die Natur gegeben, so wie an manchem, was ich mir erworben hatte. Und wenn sie mir viele Vorzüge zugestand, so war es keineswegs demüthigend für sie: denn erst¬ lich gedachte sie nicht mit einer Mannsperson zu wetteifern, und zweytens glaubte sie, in Absicht auf religiöse Bildung sehr viel vor mir voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Un¬ geduld, mein Streben, mein Suchen, Forschen Sinnen und Schwanken, legte sie auf ihre Weise aus, und verhehlte mir ihre Ueberzeu¬ gung nicht, sondern versicherte mir unbewun¬ den, das alles komme daher, weil ich keinen versöhnten Gott habe. Nun hatte ich von Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz gut zu stehen, ja ich bildete mir, nach man¬ cherley Erfahrungen, wohl ein, daß er gegen
II. 20
einem unbekannten Heile ſtrebendes Weſen, das, ob es ſich gleich nicht fuͤr außerordentlich ſuͤnd¬ haft halten konnte, ſich doch in keinem behag¬ lichen Zuſtand befand, und weder an Leib noch Seele ganz geſund war. Sie erfreute ſich an dem, was mir die Natur gegeben, ſo wie an manchem, was ich mir erworben hatte. Und wenn ſie mir viele Vorzuͤge zugeſtand, ſo war es keineswegs demuͤthigend fuͤr ſie: denn erſt¬ lich gedachte ſie nicht mit einer Mannsperſon zu wetteifern, und zweytens glaubte ſie, in Abſicht auf religioͤſe Bildung ſehr viel vor mir voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Un¬ geduld, mein Streben, mein Suchen, Forſchen Sinnen und Schwanken, legte ſie auf ihre Weiſe aus, und verhehlte mir ihre Ueberzeu¬ gung nicht, ſondern verſicherte mir unbewun¬ den, das alles komme daher, weil ich keinen verſoͤhnten Gott habe. Nun hatte ich von Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz gut zu ſtehen, ja ich bildete mir, nach man¬ cherley Erfahrungen, wohl ein, daß er gegen
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einem unbekannten Heile ſtrebendes Weſen, das,
ob es ſich gleich nicht fuͤr außerordentlich ſuͤnd¬
haft halten konnte, ſich doch in keinem behag¬
lichen Zuſtand befand, und weder an Leib noch
Seele ganz geſund war. Sie erfreute ſich an
dem, was mir die Natur gegeben, ſo wie an
manchem, was ich mir erworben hatte. Und
wenn ſie mir viele Vorzuͤge zugeſtand, ſo war
es keineswegs demuͤthigend fuͤr ſie: denn erſt¬
lich gedachte ſie nicht mit einer Mannsperſon
zu wetteifern, und zweytens glaubte ſie, in
Abſicht auf religioͤſe Bildung ſehr viel vor mir
voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Un¬
geduld, mein Streben, mein Suchen, Forſchen
Sinnen und Schwanken, legte ſie auf ihre
Weiſe aus, und verhehlte mir ihre Ueberzeu¬
gung nicht, ſondern verſicherte mir unbewun¬
den, das alles komme daher, weil ich keinen
verſoͤhnten Gott habe. Nun hatte ich von
Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz
gut zu ſtehen, ja ich bildete mir, nach man¬
cherley Erfahrungen, wohl ein, daß er gegen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/313>, abgerufen am 24.11.2024.
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