heit ihres Geistes vertrug sie sich nicht zum Besten mit den übrigen Frauen, welche den gleichen Weg zum Heil eingeschlagen hatten. Frau Griesbach, die vorzüglichste, schien zu streng, zu trocken, zu gelehrt; sie wußte, dach¬ te, umfaßte mehr als die andern, die sich mit der Entwickelung ihres Gefühls begnügten, und war ihnen daher lästig, weil nicht jede einen so großen Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit sich führen konnte noch wollte. Dafür aber wurden denn die meisten frey¬ lich etwas eintönig, indem sie sich an eine ge¬ wisse Terminologie hielten, die man mit jener der späteren Empfindsamen wohl verglichen hätte. Fräulein von Klettenberg führte ihren Weg zwischen beyden Extremen durch, und schien sich mit einiger Selbstgefälligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu spiegeln, dessen Gesinnungen und Wirkungen Zeugniß einer höheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten. Nun fand sie an mir was sie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach
heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten. Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬ te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten, und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte. Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬ lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬ wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln, deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0312"n="304"/>
heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum<lb/>
Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den<lb/>
gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten.<lb/>
Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu<lb/>ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬<lb/>
te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit<lb/>
der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten,<lb/>
und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede<lb/>
einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur<lb/>
Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte.<lb/>
Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬<lb/>
lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬<lb/>
wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener<lb/>
der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen<lb/>
haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren<lb/>
Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und<lb/>ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem<lb/>
Bilde des Grafen <hirendition="#g">Zinzendorf</hi> zu ſpiegeln,<lb/>
deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß<lb/>
einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren<lb/>
Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was<lb/>ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach<lb/></p></div></body></text></TEI>
[304/0312]
heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum
Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den
gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten.
Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu
ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬
te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit
der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten,
und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede
einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur
Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte.
Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬
lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬
wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener
der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen
haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren
Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und
ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem
Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln,
deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß
einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren
Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was
ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/312>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.