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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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heit ihres Geistes vertrug sie sich nicht zum
Besten mit den übrigen Frauen, welche den
gleichen Weg zum Heil eingeschlagen hatten.
Frau Griesbach, die vorzüglichste, schien zu
streng, zu trocken, zu gelehrt; sie wußte, dach¬
te, umfaßte mehr als die andern, die sich mit
der Entwickelung ihres Gefühls begnügten,
und war ihnen daher lästig, weil nicht jede
einen so großen Apparat auf dem Wege zur
Seligkeit mit sich führen konnte noch wollte.
Dafür aber wurden denn die meisten frey¬
lich etwas eintönig, indem sie sich an eine ge¬
wisse Terminologie hielten, die man mit jener
der späteren Empfindsamen wohl verglichen
hätte. Fräulein von Klettenberg führte ihren
Weg zwischen beyden Extremen durch, und
schien sich mit einiger Selbstgefälligkeit in dem
Bilde des Grafen Zinzendorf zu spiegeln,
dessen Gesinnungen und Wirkungen Zeugniß
einer höheren Geburt und eines vornehmeren
Standes ablegten. Nun fand sie an mir was
sie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach

heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum
Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den
gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten.
Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu
ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬
te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit
der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten,
und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede
einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur
Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte.
Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬
lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬
wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener
der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen
haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren
Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und
ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem
Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln,
deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß
einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren
Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was
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[304/0312] heit ihres Geiſtes vertrug ſie ſich nicht zum Beſten mit den uͤbrigen Frauen, welche den gleichen Weg zum Heil eingeſchlagen hatten. Frau Griesbach, die vorzuͤglichſte, ſchien zu ſtreng, zu trocken, zu gelehrt; ſie wußte, dach¬ te, umfaßte mehr als die andern, die ſich mit der Entwickelung ihres Gefuͤhls begnuͤgten, und war ihnen daher laͤſtig, weil nicht jede einen ſo großen Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit ſich fuͤhren konnte noch wollte. Dafuͤr aber wurden denn die meiſten frey¬ lich etwas eintoͤnig, indem ſie ſich an eine ge¬ wiſſe Terminologie hielten, die man mit jener der ſpaͤteren Empfindſamen wohl verglichen haͤtte. Fraͤulein von Klettenberg fuͤhrte ihren Weg zwiſchen beyden Extremen durch, und ſchien ſich mit einiger Selbſtgefaͤlligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu ſpiegeln, deſſen Geſinnungen und Wirkungen Zeugniß einer hoͤheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten. Nun fand ſie an mir was ſie bedurfte, ein junges lebhaftes, auch nach

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/312>, abgerufen am 24.11.2024.