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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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nehmen. Mein Vater hatte nach meiner Ab¬
reise seine ganze didactische Liebhaberey der
Schwester zugewendet, und ihr bey einem völ¬
lig geschlossenen, durch den Frieden gesicherten
und selbst von Miethleuten geräumten Hause
fast alle Mittel abgeschnitten, sich auswärts
einigermaßen umzuthun und zu erholen. Das
Französische, Italiänische, Englische mußte sie
abwechselnd treiben und bearbeiten, wobey er
sie einen großen Theil des Tags sich an dem
Claviere zu üben nöthigte. Das Schreiben
durfte auch nicht versäumt werden, und ich
hatte wohl schon früher gemerkt, daß er ihre
Correspondenz mit mir dirigirt und seine Leh¬
ren durch ihre Feder mir hatte zukommen las¬
sen. Meine Schwester war und blieb ein
indefinibels Wesen, das sonderbarste Gemisch
von Strenge und Weichheit, von Eigensinn
und Nachgiebigkeit, welche Eigenschaften bald
vereint, bald durch Willen und Neigung ver¬
einzelt wirkten. So hatte sie auf eine Weise,
die mir fürchterlich erschien, ihre Härte gegen

nehmen. Mein Vater hatte nach meiner Ab¬
reiſe ſeine ganze didactiſche Liebhaberey der
Schweſter zugewendet, und ihr bey einem voͤl¬
lig geſchloſſenen, durch den Frieden geſicherten
und ſelbſt von Miethleuten geraͤumten Hauſe
faſt alle Mittel abgeſchnitten, ſich auswaͤrts
einigermaßen umzuthun und zu erholen. Das
Franzoͤſiſche, Italiaͤniſche, Engliſche mußte ſie
abwechſelnd treiben und bearbeiten, wobey er
ſie einen großen Theil des Tags ſich an dem
Claviere zu uͤben noͤthigte. Das Schreiben
durfte auch nicht verſaͤumt werden, und ich
hatte wohl ſchon fruͤher gemerkt, daß er ihre
Correſpondenz mit mir dirigirt und ſeine Leh¬
ren durch ihre Feder mir hatte zukommen laſ¬
ſen. Meine Schweſter war und blieb ein
indefinibels Weſen, das ſonderbarſte Gemiſch
von Strenge und Weichheit, von Eigenſinn
und Nachgiebigkeit, welche Eigenſchaften bald
vereint, bald durch Willen und Neigung ver¬
einzelt wirkten. So hatte ſie auf eine Weiſe,
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[299/0307] nehmen. Mein Vater hatte nach meiner Ab¬ reiſe ſeine ganze didactiſche Liebhaberey der Schweſter zugewendet, und ihr bey einem voͤl¬ lig geſchloſſenen, durch den Frieden geſicherten und ſelbſt von Miethleuten geraͤumten Hauſe faſt alle Mittel abgeſchnitten, ſich auswaͤrts einigermaßen umzuthun und zu erholen. Das Franzoͤſiſche, Italiaͤniſche, Engliſche mußte ſie abwechſelnd treiben und bearbeiten, wobey er ſie einen großen Theil des Tags ſich an dem Claviere zu uͤben noͤthigte. Das Schreiben durfte auch nicht verſaͤumt werden, und ich hatte wohl ſchon fruͤher gemerkt, daß er ihre Correſpondenz mit mir dirigirt und ſeine Leh¬ ren durch ihre Feder mir hatte zukommen laſ¬ ſen. Meine Schweſter war und blieb ein indefinibels Weſen, das ſonderbarſte Gemiſch von Strenge und Weichheit, von Eigenſinn und Nachgiebigkeit, welche Eigenſchaften bald vereint, bald durch Willen und Neigung ver¬ einzelt wirkten. So hatte ſie auf eine Weiſe, die mir fuͤrchterlich erſchien, ihre Haͤrte gegen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/307>, abgerufen am 23.11.2024.