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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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anderen überlieferten Schriften einen besondern
Vorzug gönnen und sie als ein Document an¬
sehen, woraus wir allein unsern sittlichen und
geistigen Stammbaum darthun könnten. Er
gehörte unter diejenigen, denen ein unmittel¬
bares Verhältniß zu dem großen Weltgotte
nicht in den Sinn will; ihm war daher eine
Vermittelung nothwendig, deren Analogon er
überall in irdischen und himmlischen Dingen
zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm
und consequent, fand bey einem jungen Men¬
schen leicht Gehör, der durch eine verdrießli¬
che Krankheit von irdischen Dingen abgeson¬
dert, die Lebhaftigkeit seines Geistes gegen die
himmlischen zu wenden höchst erwünscht fand.
Bibelfest wie ich war kam es bloß auf den
Glauben an, das was ich menschlicher Weise
zeither geschätzt, nunmehr für göttlich zu er¬
klären, welches mir um so leichter fiel, da ich
die erste Bekanntschaft mit diesem Buche als
einem göttlichen gemacht hatte. Einem Dul¬
denden, zart, ja schwächlich Fühlenden war

anderen uͤberlieferten Schriften einen beſondern
Vorzug goͤnnen und ſie als ein Document an¬
ſehen, woraus wir allein unſern ſittlichen und
geiſtigen Stammbaum darthun koͤnnten. Er
gehoͤrte unter diejenigen, denen ein unmittel¬
bares Verhaͤltniß zu dem großen Weltgotte
nicht in den Sinn will; ihm war daher eine
Vermittelung nothwendig, deren Analogon er
uͤberall in irdiſchen und himmliſchen Dingen
zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm
und conſequent, fand bey einem jungen Men¬
ſchen leicht Gehoͤr, der durch eine verdrießli¬
che Krankheit von irdiſchen Dingen abgeſon¬
dert, die Lebhaftigkeit ſeines Geiſtes gegen die
himmliſchen zu wenden hoͤchſt erwuͤnſcht fand.
Bibelfeſt wie ich war kam es bloß auf den
Glauben an, das was ich menſchlicher Weiſe
zeither geſchaͤtzt, nunmehr fuͤr goͤttlich zu er¬
klaͤren, welches mir um ſo leichter fiel, da ich
die erſte Bekanntſchaft mit dieſem Buche als
einem goͤttlichen gemacht hatte. Einem Dul¬
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[293/0301] anderen uͤberlieferten Schriften einen beſondern Vorzug goͤnnen und ſie als ein Document an¬ ſehen, woraus wir allein unſern ſittlichen und geiſtigen Stammbaum darthun koͤnnten. Er gehoͤrte unter diejenigen, denen ein unmittel¬ bares Verhaͤltniß zu dem großen Weltgotte nicht in den Sinn will; ihm war daher eine Vermittelung nothwendig, deren Analogon er uͤberall in irdiſchen und himmliſchen Dingen zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm und conſequent, fand bey einem jungen Men¬ ſchen leicht Gehoͤr, der durch eine verdrießli¬ che Krankheit von irdiſchen Dingen abgeſon¬ dert, die Lebhaftigkeit ſeines Geiſtes gegen die himmliſchen zu wenden hoͤchſt erwuͤnſcht fand. Bibelfeſt wie ich war kam es bloß auf den Glauben an, das was ich menſchlicher Weiſe zeither geſchaͤtzt, nunmehr fuͤr goͤttlich zu er¬ klaͤren, welches mir um ſo leichter fiel, da ich die erſte Bekanntſchaft mit dieſem Buche als einem goͤttlichen gemacht hatte. Einem Dul¬ denden, zart, ja ſchwaͤchlich Fuͤhlenden war

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/301>, abgerufen am 22.11.2024.