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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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ses alles vorausgesetzt, schien mir nichts na¬
türlicher als ihn aufzusuchen, mich mit ihm
zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und
ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬
ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬
streben, einen mühsam geschriebenen Brief
mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬
sche, mit der gelben Kutsche sehnsuchtsvoll
nach Dresden.

Ich suchte nach meinem Schuster und fand
ihn bald in der Vorstadt. Auf seinem Sche¬
mel sitzend empfing er mich freundlich und
sagte lächelnd, nachdem er den Brief gelesen:
"Ich sehe hieraus, junger Herr, daß Ihr
ein wunderlicher Christ seyd." Wie das, Mei¬
ster? versetzte ich. Wunderlich ist nicht übel
gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand
so, der sich nicht gleich ist, und ich nenne
Sie einen wunderlichen Christen, weil Sie
Sich in einem Stück als den Nachfolger des
Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.

ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬
tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm
zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und
ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬
ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬
ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief
mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬
ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll
nach Dresden.

Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand
ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬
mel ſitzend empfing er mich freundlich und
ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen:
„Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr
ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬
ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel
gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand
ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne
Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie
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[255/0263] ſes alles vorausgeſetzt, ſchien mir nichts na¬ tuͤrlicher als ihn aufzuſuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bey ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein gu¬ ter Candidat gab mir, nach einigem Wider¬ ſtreben, einen muͤhſam geſchriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Ta¬ ſche, mit der gelben Kutſche ſehnſuchtsvoll nach Dresden. Ich ſuchte nach meinem Schuſter und fand ihn bald in der Vorſtadt. Auf ſeinem Sche¬ mel ſitzend empfing er mich freundlich und ſagte laͤchelnd, nachdem er den Brief geleſen: „Ich ſehe hieraus, junger Herr, daß Ihr ein wunderlicher Chriſt ſeyd.“ Wie das, Mei¬ ſter? verſetzte ich. Wunderlich iſt nicht uͤbel gemeynt, fuhr er fort, man nennt Jemand ſo, der ſich nicht gleich iſt, und ich nenne Sie einen wunderlichen Chriſten, weil Sie Sich in einem Stuͤck als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/263>, abgerufen am 25.11.2024.