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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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hindämmerte, hätte zu einer strengen und ent¬
schiedenen Ausübung anleiten sollen. Von den
Gesichtern und Körpern selbst überlieferte er
uns mehr die Ansichten als die Formen, mehr
die Gebärden als die Proportionen. Er gab
uns die Begriffe von den Gestalten, und ver¬
langte, wir sollten sie in uns lebendig wer¬
den lassen. Das wäre denn auch schön und
recht gewesen, wenn er nicht bloß Anfänger
vor sich gehabt hätte. Konnte man ihm da¬
her ein vorzügliches Talent zum Unterricht
wohl absprechen; so mußte man dagegen be¬
kennen, daß er sehr gescheidt und weltklug sey,
und daß eine glückliche Gewandtheit des Gei¬
stes ihn, in einem höhern Sinne, recht eigent¬
lich zum Lehrer qualificire. Die Mängel, an
denen jeder litt, sah er recht gut ein; er ver¬
schmähte jedoch, sie direct zu rügen, und deu¬
tete vielmehr Lob und Tadel indirect sehr la¬
conisch an. Nun mußte man über die Sache
denken und kam in der Einsicht schnell um
vieles weiter. So hatte ich z. B. auf blaues

hindaͤmmerte, haͤtte zu einer ſtrengen und ent¬
ſchiedenen Ausuͤbung anleiten ſollen. Von den
Geſichtern und Koͤrpern ſelbſt uͤberlieferte er
uns mehr die Anſichten als die Formen, mehr
die Gebaͤrden als die Proportionen. Er gab
uns die Begriffe von den Geſtalten, und ver¬
langte, wir ſollten ſie in uns lebendig wer¬
den laſſen. Das waͤre denn auch ſchoͤn und
recht geweſen, wenn er nicht bloß Anfaͤnger
vor ſich gehabt haͤtte. Konnte man ihm da¬
her ein vorzuͤgliches Talent zum Unterricht
wohl abſprechen; ſo mußte man dagegen be¬
kennen, daß er ſehr geſcheidt und weltklug ſey,
und daß eine gluͤckliche Gewandtheit des Gei¬
ſtes ihn, in einem hoͤhern Sinne, recht eigent¬
lich zum Lehrer qualificire. Die Maͤngel, an
denen jeder litt, ſah er recht gut ein; er ver¬
ſchmaͤhte jedoch, ſie direct zu ruͤgen, und deu¬
tete vielmehr Lob und Tadel indirect ſehr la¬
coniſch an. Nun mußte man uͤber die Sache
denken und kam in der Einſicht ſchnell um
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[238/0246] hindaͤmmerte, haͤtte zu einer ſtrengen und ent¬ ſchiedenen Ausuͤbung anleiten ſollen. Von den Geſichtern und Koͤrpern ſelbſt uͤberlieferte er uns mehr die Anſichten als die Formen, mehr die Gebaͤrden als die Proportionen. Er gab uns die Begriffe von den Geſtalten, und ver¬ langte, wir ſollten ſie in uns lebendig wer¬ den laſſen. Das waͤre denn auch ſchoͤn und recht geweſen, wenn er nicht bloß Anfaͤnger vor ſich gehabt haͤtte. Konnte man ihm da¬ her ein vorzuͤgliches Talent zum Unterricht wohl abſprechen; ſo mußte man dagegen be¬ kennen, daß er ſehr geſcheidt und weltklug ſey, und daß eine gluͤckliche Gewandtheit des Gei¬ ſtes ihn, in einem hoͤhern Sinne, recht eigent¬ lich zum Lehrer qualificire. Die Maͤngel, an denen jeder litt, ſah er recht gut ein; er ver¬ ſchmaͤhte jedoch, ſie direct zu ruͤgen, und deu¬ tete vielmehr Lob und Tadel indirect ſehr la¬ coniſch an. Nun mußte man uͤber die Sache denken und kam in der Einſicht ſchnell um vieles weiter. So hatte ich z. B. auf blaues

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/246>, abgerufen am 22.11.2024.