allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht schwer, mich ihm zu nähern, und wir spazirten öfters mit einander. Der Begriff von Erfahrung war beynah fix in meinem Gehirne geworden, und das Bedürfniß, mir ihn klar zu machen, leidenschaftlich. Offenmü¬ thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬ he, in der ich mich befand. Er lächelte und war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬ ner Fragen, etwas von seinem Leben und von der nächsten Welt überhaupt zu erzählen, wo bey freylich zuletzt wenig Besseres herauskam als, daß die Erfahrung uns überzeuge, daß unsere besten Gedanken, Wünsche und Versä¬ tze unerreichbar seyen, und daß man denjeni¬ gen, welcher dergleichen Grillen hege und sie mit Lebhaftigkeit äußere, vornehmlich für ei¬ nen unerfahrnen Menschen halte.
Da er jedoch ein wackerer, tüchtiger Mann war, so versicherte er mir, er habe diese Gril¬ len selbst noch nicht ganz aufgegeben, und be¬
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allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff von Erfahrung war beynah fix in meinem Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬ thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬ he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬ ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬ tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬ gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬ nen unerfahrnen Menſchen halte.
Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬ len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬
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allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel
nicht ſchwer, mich ihm zu naͤhern, und wir
ſpazirten oͤfters mit einander. Der Begriff
von Erfahrung war beynah fix in meinem
Gehirne geworden, und das Beduͤrfniß, mir
ihn klar zu machen, leidenſchaftlich. Offenmuͤ¬
thig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unru¬
he, in der ich mich befand. Er laͤchelte und
war freundlich genug, mir, im Gefolg mei¬
ner Fragen, etwas von ſeinem Leben und von
der naͤchſten Welt uͤberhaupt zu erzaͤhlen, wo
bey freylich zuletzt wenig Beſſeres herauskam
als, daß die Erfahrung uns uͤberzeuge, daß
unſere beſten Gedanken, Wuͤnſche und Verſaͤ¬
tze unerreichbar ſeyen, und daß man denjeni¬
gen, welcher dergleichen Grillen hege und ſie
mit Lebhaftigkeit aͤußere, vornehmlich fuͤr ei¬
nen unerfahrnen Menſchen halte.
Da er jedoch ein wackerer, tuͤchtiger Mann
war, ſo verſicherte er mir, er habe dieſe Gril¬
len ſelbſt noch nicht ganz aufgegeben, und be¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/233>, abgerufen am 24.11.2024.
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