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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Eben diese Geschichte der Philosophie je¬
doch, die mein Freund mit mir zu treiben
sich genöthigt sah, weil ich dem dogmatischen
Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, un¬
terhielt mich sehr, aber nur in dem Sinne,
daß mir eine Lehre, eine Meynung so gut
wie die andre vorkam, in sofern ich nämlich
in dieselbe einzudringen fähig war. An den
ältesten Männern und Schulen gefiel mir am
besten, daß Poesie, Religion und Philosophie
ganz in Eins zusammenfielen, und ich behaup¬
tete jene meine erste Meynung nur um desto
lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe-
Lied und die Sprüchwörter Salomonis eben
so gut als die Orphischen und Hesiodischen
Gesänge dafür ein gültiges Zeugniß abzulegen
schienen. Mein Freund hatte den kleinen
Brucker
zum Grunde seines Vortrags gelegt,
und je weiter wir vorwärts kamen, je weni¬
ger wußte ich daraus zu machen. Was die
ersten griechischen Philosophen wollten, konnte
mir nicht deutlich werden. Sokrates galt

Eben dieſe Geſchichte der Philoſophie je¬
doch, die mein Freund mit mir zu treiben
ſich genoͤthigt ſah, weil ich dem dogmatiſchen
Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, un¬
terhielt mich ſehr, aber nur in dem Sinne,
daß mir eine Lehre, eine Meynung ſo gut
wie die andre vorkam, in ſofern ich naͤmlich
in dieſelbe einzudringen faͤhig war. An den
aͤlteſten Maͤnnern und Schulen gefiel mir am
beſten, daß Poeſie, Religion und Philoſophie
ganz in Eins zuſammenfielen, und ich behaup¬
tete jene meine erſte Meynung nur um deſto
lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe-
Lied und die Spruͤchwoͤrter Salomonis eben
ſo gut als die Orphiſchen und Heſiodiſchen
Geſaͤnge dafuͤr ein guͤltiges Zeugniß abzulegen
ſchienen. Mein Freund hatte den kleinen
Brucker
zum Grunde ſeines Vortrags gelegt,
und je weiter wir vorwaͤrts kamen, je weni¬
ger wußte ich daraus zu machen. Was die
erſten griechiſchen Philoſophen wollten, konnte
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[13/0021] Eben dieſe Geſchichte der Philoſophie je¬ doch, die mein Freund mit mir zu treiben ſich genoͤthigt ſah, weil ich dem dogmatiſchen Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, un¬ terhielt mich ſehr, aber nur in dem Sinne, daß mir eine Lehre, eine Meynung ſo gut wie die andre vorkam, in ſofern ich naͤmlich in dieſelbe einzudringen faͤhig war. An den aͤlteſten Maͤnnern und Schulen gefiel mir am beſten, daß Poeſie, Religion und Philoſophie ganz in Eins zuſammenfielen, und ich behaup¬ tete jene meine erſte Meynung nur um deſto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe- Lied und die Spruͤchwoͤrter Salomonis eben ſo gut als die Orphiſchen und Heſiodiſchen Geſaͤnge dafuͤr ein guͤltiges Zeugniß abzulegen ſchienen. Mein Freund hatte den kleinen Brucker zum Grunde ſeines Vortrags gelegt, und je weiter wir vorwaͤrts kamen, je weni¬ ger wußte ich daraus zu machen. Was die erſten griechiſchen Philoſophen wollten, konnte mir nicht deutlich werden. Sokrates galt

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/21>, abgerufen am 27.11.2024.