Gelegenheit zu Betrachtungen über die mensch¬ lichen Dinge darbietet; so konnte sie durchaus nach wie vor bey allen Kanzelreden und sonsti¬ gen religiosen Verhandlungen zum Grunde ge¬ legt werden.
Allein diesem Werke stand, so wie den sämmtlichen Profanscribenten, noch ein eige¬ nes Schicksal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war. Man hatte nämlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, daß dieses Buch der Bücher in Einem Geiste verfaßt, ja daß es von dem göttlichen Geiste eingehaucht und gleichsam dictirt sey. Doch waren schon längst von Gläubigen und Un¬ gläubigen die Ungleichheiten der verschiedenen Theile desselben bald gerügt, bald vertheidigt worden. Engländer, Franzosen, Deutsche hat¬ ten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfsinn, Frechheit, Muthwillen angegriffen, und eben so war sie wieder von ernsthaften, wohldenkenden Menschen einer jeden Nation in
II. 10
Gelegenheit zu Betrachtungen uͤber die menſch¬ lichen Dinge darbietet; ſo konnte ſie durchaus nach wie vor bey allen Kanzelreden und ſonſti¬ gen religioſen Verhandlungen zum Grunde ge¬ legt werden.
Allein dieſem Werke ſtand, ſo wie den ſaͤmmtlichen Profanſcribenten, noch ein eige¬ nes Schickſal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war. Man hatte naͤmlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, daß dieſes Buch der Buͤcher in Einem Geiſte verfaßt, ja daß es von dem goͤttlichen Geiſte eingehaucht und gleichſam dictirt ſey. Doch waren ſchon laͤngſt von Glaͤubigen und Un¬ glaͤubigen die Ungleichheiten der verſchiedenen Theile deſſelben bald geruͤgt, bald vertheidigt worden. Englaͤnder, Franzoſen, Deutſche hat¬ ten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfſinn, Frechheit, Muthwillen angegriffen, und eben ſo war ſie wieder von ernſthaften, wohldenkenden Menſchen einer jeden Nation in
II. 10
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Gelegenheit zu Betrachtungen uͤber die menſch¬
lichen Dinge darbietet; ſo konnte ſie durchaus
nach wie vor bey allen Kanzelreden und ſonſti¬
gen religioſen Verhandlungen zum Grunde ge¬
legt werden.
Allein dieſem Werke ſtand, ſo wie den
ſaͤmmtlichen Profanſcribenten, noch ein eige¬
nes Schickſal bevor, welches im Laufe der Zeit
nicht abzuwenden war. Man hatte naͤmlich
bisher auf Treu und Glauben angenommen,
daß dieſes Buch der Buͤcher in Einem Geiſte
verfaßt, ja daß es von dem goͤttlichen Geiſte
eingehaucht und gleichſam dictirt ſey. Doch
waren ſchon laͤngſt von Glaͤubigen und Un¬
glaͤubigen die Ungleichheiten der verſchiedenen
Theile deſſelben bald geruͤgt, bald vertheidigt
worden. Englaͤnder, Franzoſen, Deutſche hat¬
ten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit,
Scharfſinn, Frechheit, Muthwillen angegriffen,
und eben ſo war ſie wieder von ernſthaften,
wohldenkenden Menſchen einer jeden Nation in
II. 10
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/153>, abgerufen am 24.11.2024.
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