Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: sie enthält so vieles Unbedeutende, Unwürdige, man muß also wählen; was bestimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufsuchem; was ist aber bedeutend?
Hierauf zu antworten mögen sich die Schweizer lange bedacht haben: denn sie kom¬ men auf einen zwar wunderlichen, doch arti¬ gen, ja lustigen Einfall, indem sie sagen, am bedeutendsten sey immer das Neue; und nachdem sie dieß eine Weile überlegt haben, so finden sie, das Wunderbare sey immer neuer als alles Andere.
Nun hatten sie die poetischen Erfordernisse ziemlich beysammen; allein es kam noch zu bedenken, daß ein Wunderbares auch leer seyn könne und ohne Bezug auf den Men¬ schen. Ein solcher nothwendig geforderter Bezug müsse aber moralisch seyn, woraus
Aber die Natur, wie ſie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: ſie enthaͤlt ſo vieles Unbedeutende, Unwuͤrdige, man muß alſo waͤhlen; was beſtimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufſuchem; was iſt aber bedeutend?
Hierauf zu antworten moͤgen ſich die Schweizer lange bedacht haben: denn ſie kom¬ men auf einen zwar wunderlichen, doch arti¬ gen, ja luſtigen Einfall, indem ſie ſagen, am bedeutendſten ſey immer das Neue; und nachdem ſie dieß eine Weile uͤberlegt haben, ſo finden ſie, das Wunderbare ſey immer neuer als alles Andere.
Nun hatten ſie die poetiſchen Erforderniſſe ziemlich beyſammen; allein es kam noch zu bedenken, daß ein Wunderbares auch leer ſeyn koͤnne und ohne Bezug auf den Men¬ ſchen. Ein ſolcher nothwendig geforderter Bezug muͤſſe aber moraliſch ſeyn, woraus
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Aber die Natur, wie ſie vor uns liegt, kann
doch nicht nachgeahmt werden: ſie enthaͤlt ſo
vieles Unbedeutende, Unwuͤrdige, man muß
alſo waͤhlen; was beſtimmt aber die Wahl?
man muß das Bedeutende aufſuchem; was
iſt aber bedeutend?
Hierauf zu antworten moͤgen ſich die
Schweizer lange bedacht haben: denn ſie kom¬
men auf einen zwar wunderlichen, doch arti¬
gen, ja luſtigen Einfall, indem ſie ſagen,
am bedeutendſten ſey immer das Neue; und
nachdem ſie dieß eine Weile uͤberlegt haben,
ſo finden ſie, das Wunderbare ſey immer
neuer als alles Andere.
Nun hatten ſie die poetiſchen Erforderniſſe
ziemlich beyſammen; allein es kam noch zu
bedenken, daß ein Wunderbares auch leer
ſeyn koͤnne und ohne Bezug auf den Men¬
ſchen. Ein ſolcher nothwendig geforderter
Bezug muͤſſe aber moraliſch ſeyn, woraus
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/125>, abgerufen am 22.11.2024.
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