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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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hie und da vermerken, daß er die höheren
auch wohl kenne, es aber nicht für räthlich
halte sie zu berühren. Man kann sagen,
daß er keinen Nachfolger gehabt, daß sich
Niemand gefunden, der sich ihm gleich oder
ähnlich hätte halten dürfen.

Nun zur Kritik! und zwar vorerst zu
den theoretischen Versuchen. Wir holen nicht
zu weit aus, wenn wir sagen, daß damals
das Ideelle sich aus der Welt in die Reli¬
gion geflüchtet hatte, ja sogar in der Sitten¬
lehre kaum zum Vorschein kam; von einem
höchsten Princip der Kunst hatte Niemand
eine Ahndung. Man gab uns Gottscheds
kritische Dichtkunst in die Hände; sie war
brauchbar und belehrend genug: denn sie über¬
lieferte von allen Dichtungsarten eine histori¬
sche Kenntniß, so wie vom Rhythmus und
den verschiedenen Bewegungen desselben; das
poetische Genie ward vorausgesetzt! Uebri¬
gens aber sollte der Dichter Kenntnisse ha¬

hie und da vermerken, daß er die hoͤheren
auch wohl kenne, es aber nicht fuͤr raͤthlich
halte ſie zu beruͤhren. Man kann ſagen,
daß er keinen Nachfolger gehabt, daß ſich
Niemand gefunden, der ſich ihm gleich oder
aͤhnlich haͤtte halten duͤrfen.

Nun zur Kritik! und zwar vorerſt zu
den theoretiſchen Verſuchen. Wir holen nicht
zu weit aus, wenn wir ſagen, daß damals
das Ideelle ſich aus der Welt in die Reli¬
gion gefluͤchtet hatte, ja ſogar in der Sitten¬
lehre kaum zum Vorſchein kam; von einem
hoͤchſten Princip der Kunſt hatte Niemand
eine Ahndung. Man gab uns Gottſcheds
kritiſche Dichtkunſt in die Haͤnde; ſie war
brauchbar und belehrend genug: denn ſie uͤber¬
lieferte von allen Dichtungsarten eine hiſtori¬
ſche Kenntniß, ſo wie vom Rhythmus und
den verſchiedenen Bewegungen deſſelben; das
poetiſche Genie ward vorausgeſetzt! Uebri¬
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[114/0122] hie und da vermerken, daß er die hoͤheren auch wohl kenne, es aber nicht fuͤr raͤthlich halte ſie zu beruͤhren. Man kann ſagen, daß er keinen Nachfolger gehabt, daß ſich Niemand gefunden, der ſich ihm gleich oder aͤhnlich haͤtte halten duͤrfen. Nun zur Kritik! und zwar vorerſt zu den theoretiſchen Verſuchen. Wir holen nicht zu weit aus, wenn wir ſagen, daß damals das Ideelle ſich aus der Welt in die Reli¬ gion gefluͤchtet hatte, ja ſogar in der Sitten¬ lehre kaum zum Vorſchein kam; von einem hoͤchſten Princip der Kunſt hatte Niemand eine Ahndung. Man gab uns Gottſcheds kritiſche Dichtkunſt in die Haͤnde; ſie war brauchbar und belehrend genug: denn ſie uͤber¬ lieferte von allen Dichtungsarten eine hiſtori¬ ſche Kenntniß, ſo wie vom Rhythmus und den verſchiedenen Bewegungen deſſelben; das poetiſche Genie ward vorausgeſetzt! Uebri¬ gens aber ſollte der Dichter Kenntniſſe ha¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/122>, abgerufen am 24.11.2024.