Es dauerte nicht lange, so gab man mir noch einen besondern Aufseher. Glücklicherwei¬ se war es ein Mann, den ich liebte und schätz¬ te; er hatte eine Hofmeisterstelle in einem befreundeten Hause bekleidet, sein bisheriger Zögling war allein auf die Academie gegangen. Er besuchte mich öfters in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natürlicher, als ihm ein Zimmer neben dem meinigen ein¬ zuräumen: da er mich denn beschäftigen, beru¬ higen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten sollte. Weil ich ihn jedoch von Herzen schätzte und ihm auch früher gar Man¬ ches, nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte; so beschloß ich um so mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu seyn, als es mir unerträglich war, mit Jemand täglich zu leben und auf einem unsicheren, gespann¬ ten Fuß mit ihm zu stehen. Ich säumte da¬ her nicht lange, sprach ihm von der Sache, erquickte mich in Erzählung und Wiederholung der kleinsten Umstände meines vergangenen
Es dauerte nicht lange, ſo gab man mir noch einen beſondern Aufſeher. Gluͤcklicherwei¬ ſe war es ein Mann, den ich liebte und ſchaͤtz¬ te; er hatte eine Hofmeiſterſtelle in einem befreundeten Hauſe bekleidet, ſein bisheriger Zoͤgling war allein auf die Academie gegangen. Er beſuchte mich oͤfters in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natuͤrlicher, als ihm ein Zimmer neben dem meinigen ein¬ zuraͤumen: da er mich denn beſchaͤftigen, beru¬ higen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten ſollte. Weil ich ihn jedoch von Herzen ſchaͤtzte und ihm auch fruͤher gar Man¬ ches, nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte; ſo beſchloß ich um ſo mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu ſeyn, als es mir unertraͤglich war, mit Jemand taͤglich zu leben und auf einem unſicheren, geſpann¬ ten Fuß mit ihm zu ſtehen. Ich ſaͤumte da¬ her nicht lange, ſprach ihm von der Sache, erquickte mich in Erzaͤhlung und Wiederholung der kleinſten Umſtaͤnde meines vergangenen
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Es dauerte nicht lange, ſo gab man mir
noch einen beſondern Aufſeher. Gluͤcklicherwei¬
ſe war es ein Mann, den ich liebte und ſchaͤtz¬
te; er hatte eine Hofmeiſterſtelle in einem
befreundeten Hauſe bekleidet, ſein bisheriger
Zoͤgling war allein auf die Academie gegangen.
Er beſuchte mich oͤfters in meiner traurigen
Lage, und man fand zuletzt nichts natuͤrlicher,
als ihm ein Zimmer neben dem meinigen ein¬
zuraͤumen: da er mich denn beſchaͤftigen, beru¬
higen und, wie ich wohl merken konnte, im
Auge behalten ſollte. Weil ich ihn jedoch von
Herzen ſchaͤtzte und ihm auch fruͤher gar Man¬
ches, nur nicht die Neigung zu Gretchen,
vertraut hatte; ſo beſchloß ich um ſo mehr,
ganz offen und gerade gegen ihn zu ſeyn, als
es mir unertraͤglich war, mit Jemand taͤglich
zu leben und auf einem unſicheren, geſpann¬
ten Fuß mit ihm zu ſtehen. Ich ſaͤumte da¬
her nicht lange, ſprach ihm von der Sache,
erquickte mich in Erzaͤhlung und Wiederholung
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/12>, abgerufen am 24.11.2024.
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