Sündfluth überschwemmt, welche sogar über die höchsten Berge hinaufzusteigen drohte. Bis sich eine solche Fluth wieder verläuft, bis der Schlamm austrocknet, dazu gehört viele Zeit, und da es der nachäffenden Poe¬ ten in jeder Epoche eine Unzahl giebt; so brachte die Nachahmung des Seichten, Wä߬ rigen einen solchen Wust hervor, von dem gegenwärtig kaum ein Begriff mehr geblieben ist. Das Schlechte schlecht zu finden, war daher der größte Spaß, ja der Triumph da¬ maliger Kritiker. Wer nur einigen Menschen¬ verstand besaß, oberflächlich mit den Alten, etwas näher mit den Neueren bekannt war, glaubte sich schon mit einem Maßstabe verse¬ hen, den er überall anlegen könne. Madame Böhme war eine gebildete Frau, welcher das Unbedeutende, Schwache und Gemeine wider¬ stand; sie war noch überdieß Gattinn eines Mannes, der mit der Poesie überhaupt in Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten ließ, was sie allenfalls noch gebilligt hätte. Nun
Suͤndfluth uͤberſchwemmt, welche ſogar uͤber die hoͤchſten Berge hinaufzuſteigen drohte. Bis ſich eine ſolche Fluth wieder verlaͤuft, bis der Schlamm austrocknet, dazu gehoͤrt viele Zeit, und da es der nachaͤffenden Poe¬ ten in jeder Epoche eine Unzahl giebt; ſo brachte die Nachahmung des Seichten, Waͤ߬ rigen einen ſolchen Wuſt hervor, von dem gegenwaͤrtig kaum ein Begriff mehr geblieben iſt. Das Schlechte ſchlecht zu finden, war daher der groͤßte Spaß, ja der Triumph da¬ maliger Kritiker. Wer nur einigen Menſchen¬ verſtand beſaß, oberflaͤchlich mit den Alten, etwas naͤher mit den Neueren bekannt war, glaubte ſich ſchon mit einem Maßſtabe verſe¬ hen, den er uͤberall anlegen koͤnne. Madame Boͤhme war eine gebildete Frau, welcher das Unbedeutende, Schwache und Gemeine wider¬ ſtand; ſie war noch uͤberdieß Gattinn eines Mannes, der mit der Poeſie uͤberhaupt in Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten ließ, was ſie allenfalls noch gebilligt haͤtte. Nun
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Suͤndfluth uͤberſchwemmt, welche ſogar uͤber
die hoͤchſten Berge hinaufzuſteigen drohte.
Bis ſich eine ſolche Fluth wieder verlaͤuft,
bis der Schlamm austrocknet, dazu gehoͤrt
viele Zeit, und da es der nachaͤffenden Poe¬
ten in jeder Epoche eine Unzahl giebt; ſo
brachte die Nachahmung des Seichten, Waͤ߬
rigen einen ſolchen Wuſt hervor, von dem
gegenwaͤrtig kaum ein Begriff mehr geblieben
iſt. Das Schlechte ſchlecht zu finden, war
daher der groͤßte Spaß, ja der Triumph da¬
maliger Kritiker. Wer nur einigen Menſchen¬
verſtand beſaß, oberflaͤchlich mit den Alten,
etwas naͤher mit den Neueren bekannt war,
glaubte ſich ſchon mit einem Maßſtabe verſe¬
hen, den er uͤberall anlegen koͤnne. Madame
Boͤhme war eine gebildete Frau, welcher das
Unbedeutende, Schwache und Gemeine wider¬
ſtand; ſie war noch uͤberdieß Gattinn eines
Mannes, der mit der Poeſie uͤberhaupt in
Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten ließ,
was ſie allenfalls noch gebilligt haͤtte. Nun
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/103>, abgerufen am 24.11.2024.
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