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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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ten uns kein Interesse geben; dagegen hatte
sich eine gewisse Reim- und Versewuth, durch
Lesung der damaligen deutschen Dichter, unser
bemächtigt. Mich hatte sie schon früher er¬
griffen, als ich es lustig fand, von der rhe¬
torischen Behandlung der Aufgaben zu der
poetischen überzugehen.

Wir Knaben hatten eine sonntägliche Zu¬
sammenkunft, wo jeder von ihm selbst verfer¬
tigte Verse produciren sollte. Und hier be¬
gegnete mir etwas Wunderbares, was mich
sehr lange in Unruh setzte. Meine Gedichte,
wie sie auch seyn mochten, mußte ich immer
für die bessern halten. Allein ich bemerkte
bald, daß meine Mitwerber, welche sehr lah¬
me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle
waren und sich nicht weniger dünkten; ja
was mir noch bedenklicher schien, ein guter,
obgleich zu solchen Arbeiten völlig unfähiger
Knabe, dem ich übrigens gewogen war, der
aber seine Reime sich vom Hofmeister machen

ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte
ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch
Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer
bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬
griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬
toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der
poetiſchen uͤberzugehen.

Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬
ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬
tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬
gegnete mir etwas Wunderbares, was mich
ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte,
wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer
fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte
bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬
me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle
waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja
was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter,
obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger
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[61/0077] ten uns kein Intereſſe geben; dagegen hatte ſich eine gewiſſe Reim- und Verſewuth, durch Leſung der damaligen deutſchen Dichter, unſer bemaͤchtigt. Mich hatte ſie ſchon fruͤher er¬ griffen, als ich es luſtig fand, von der rhe¬ toriſchen Behandlung der Aufgaben zu der poetiſchen uͤberzugehen. Wir Knaben hatten eine ſonntaͤgliche Zu¬ ſammenkunft, wo jeder von ihm ſelbſt verfer¬ tigte Verſe produciren ſollte. Und hier be¬ gegnete mir etwas Wunderbares, was mich ſehr lange in Unruh ſetzte. Meine Gedichte, wie ſie auch ſeyn mochten, mußte ich immer fuͤr die beſſern halten. Allein ich bemerkte bald, daß meine Mitwerber, welche ſehr lah¬ me Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und ſich nicht weniger duͤnkten; ja was mir noch bedenklicher ſchien, ein guter, obgleich zu ſolchen Arbeiten voͤllig unfaͤhiger Knabe, dem ich uͤbrigens gewogen war, der aber ſeine Reime ſich vom Hofmeiſter machen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/77>, abgerufen am 25.11.2024.