sen, so eilte ich auf meinen vorigen Platz, der von andern bereits eingenommen nur mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde.
Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenster wieder Besitz nahm: denn das Merkwürdigste was öffentlich zu erblicken war, sollte eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Römer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatschreyen gab uns zu erken¬ nen, daß Kaiser und König an dem Balcon¬ fenster des großen Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern vor ih¬ ren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vor¬ gehen. Vor allen schwang sich nun der schöne schlanke Erbmarschall auf sein Roß; er hatte das Schwerd abgelegt, in seiner Rechten hielt er ein silbernes gehenkeltes Gemäß, und ein Streichblech in der Linken. So ritt er in den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, sprengte hinein, schöpfte das Gefäß über¬
ſen, ſo eilte ich auf meinen vorigen Platz, der von andern bereits eingenommen nur mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde.
Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenſter wieder Beſitz nahm: denn das Merkwuͤrdigſte was oͤffentlich zu erblicken war, ſollte eben vorgehen. Alles Volk hatte ſich gegen den Roͤmer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatſchreyen gab uns zu erken¬ nen, daß Kaiſer und Koͤnig an dem Balcon¬ fenſter des großen Saales in ihrem Ornate ſich dem Volke zeigten. Aber ſie ſollten nicht allein zum Schauſpiel dienen, ſondern vor ih¬ ren Augen ſollte ein ſeltſames Schauſpiel vor¬ gehen. Vor allen ſchwang ſich nun der ſchoͤne ſchlanke Erbmarſchall auf ſein Roß; er hatte das Schwerd abgelegt, in ſeiner Rechten hielt er ein ſilbernes gehenkeltes Gemaͤß, und ein Streichblech in der Linken. So ritt er in den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, ſprengte hinein, ſchoͤpfte das Gefaͤß uͤber¬
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ſen, ſo eilte ich auf meinen vorigen Platz,
der von andern bereits eingenommen nur
mit einiger Noth mir wieder zu Theil wurde.
Es war eben die rechte Zeit, daß ich von
meinem Fenſter wieder Beſitz nahm: denn
das Merkwuͤrdigſte was oͤffentlich zu erblicken
war, ſollte eben vorgehen. Alles Volk hatte
ſich gegen den Roͤmer zu gewendet, und ein
abermaliges Vivatſchreyen gab uns zu erken¬
nen, daß Kaiſer und Koͤnig an dem Balcon¬
fenſter des großen Saales in ihrem Ornate
ſich dem Volke zeigten. Aber ſie ſollten nicht
allein zum Schauſpiel dienen, ſondern vor ih¬
ren Augen ſollte ein ſeltſames Schauſpiel vor¬
gehen. Vor allen ſchwang ſich nun der ſchoͤne
ſchlanke Erbmarſchall auf ſein Roß; er hatte
das Schwerd abgelegt, in ſeiner Rechten hielt
er ein ſilbernes gehenkeltes Gemaͤß, und ein
Streichblech in der Linken. So ritt er in
den Schranken auf den großen Haferhaufen
zu, ſprengte hinein, ſchoͤpfte das Gefaͤß uͤber¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/501>, abgerufen am 24.11.2024.
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