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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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meiner Seite war auch nicht sonderlich geschickt
mich den Leuten bequem darzustellen. Gewöhn¬
lich erwarb ich ihre Gunst, aber nicht ihren
Beyfall. Was mich beschäftigte, war mir
vollkommen gegenwärtig; aber ich fragte
nicht, ob es auch andern gemäß seyn könne.
Ich war meist zu lebhaft oder zu still, und
schien entweder zudringlich oder stöckig, je
nachdem die Menschen mich anzogen oder
abstießen; und so wurde ich zwar für hoff¬
nungsvoll gehalten, aber dabey für wunder¬
lich erklärt.

Der Krönungstag brach endlich an, den
3ten April 1764; das Wetter war günstig
und alle Menschen in Bewegung. Man hatte
mir nebst mehrern Verwandten und Freunden,
in dem Römer selbst, in einer der obern
Etagen, einen guten Platz angewiesen, wo
wir das Ganze vollkommen übersehen konn¬
ten. Mit dem Frühsten begaben wir uns an
Ort und Stelle, und beschauten nunmehr

meiner Seite war auch nicht ſonderlich geſchickt
mich den Leuten bequem darzuſtellen. Gewoͤhn¬
lich erwarb ich ihre Gunſt, aber nicht ihren
Beyfall. Was mich beſchaͤftigte, war mir
vollkommen gegenwaͤrtig; aber ich fragte
nicht, ob es auch andern gemaͤß ſeyn koͤnne.
Ich war meiſt zu lebhaft oder zu ſtill, und
ſchien entweder zudringlich oder ſtoͤckig, je
nachdem die Menſchen mich anzogen oder
abſtießen; und ſo wurde ich zwar fuͤr hoff¬
nungsvoll gehalten, aber dabey fuͤr wunder¬
lich erklaͤrt.

Der Kroͤnungstag brach endlich an, den
3ten April 1764; das Wetter war guͤnſtig
und alle Menſchen in Bewegung. Man hatte
mir nebſt mehrern Verwandten und Freunden,
in dem Roͤmer ſelbſt, in einer der obern
Etagen, einen guten Platz angewieſen, wo
wir das Ganze vollkommen uͤberſehen konn¬
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Ort und Stelle, und beſchauten nunmehr

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[472/0488] meiner Seite war auch nicht ſonderlich geſchickt mich den Leuten bequem darzuſtellen. Gewoͤhn¬ lich erwarb ich ihre Gunſt, aber nicht ihren Beyfall. Was mich beſchaͤftigte, war mir vollkommen gegenwaͤrtig; aber ich fragte nicht, ob es auch andern gemaͤß ſeyn koͤnne. Ich war meiſt zu lebhaft oder zu ſtill, und ſchien entweder zudringlich oder ſtoͤckig, je nachdem die Menſchen mich anzogen oder abſtießen; und ſo wurde ich zwar fuͤr hoff¬ nungsvoll gehalten, aber dabey fuͤr wunder¬ lich erklaͤrt. Der Kroͤnungstag brach endlich an, den 3ten April 1764; das Wetter war guͤnſtig und alle Menſchen in Bewegung. Man hatte mir nebſt mehrern Verwandten und Freunden, in dem Roͤmer ſelbſt, in einer der obern Etagen, einen guten Platz angewieſen, wo wir das Ganze vollkommen uͤberſehen konn¬ ten. Mit dem Fruͤhſten begaben wir uns an Ort und Stelle, und beſchauten nunmehr

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/488>, abgerufen am 29.09.2024.