Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

rung: nur setzte sie sich manchmal neben mich,
besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und
dann legte sie mir vertraulich den Arm auf
die Schulter, sah mir ins Buch oder aufs
Blatt; wollte ich mir aber eine ähnliche Frey¬
heit gegen sie herausnehmen, so wich sie und
kam sobald nicht wieder. Doch wiederholte
sie oft diese Stellung, so wie alle ihre Gesten
und Bewegungen sehr einförmig waren, aber
immer gleich gehörig, schön und reizend. Al¬
lein jene Vertraulichkeit habe ich sie gegen
Niemanden weiter ausüben sehen.

Eine der unschuldigsten und zugleich unter¬
haltendsten Lustpartieen, die ich mit verschie¬
denen Gesellschaften junger Leute unternahm,
war, daß wir uns in das Höchster Markt¬
schiff setzten, die darin eingepackten seltsamen
Passagiere beobachteten und uns bald mit
diesem bald mit jenem, wie uns Lust oder
Muthwille trieb, scherzhaft und neckend ein¬
ließen. Zu Höchst stiegen wir aus, wo zu

rung: nur ſetzte ſie ſich manchmal neben mich,
beſonders wenn ich ſchrieb oder vorlas, und
dann legte ſie mir vertraulich den Arm auf
die Schulter, ſah mir ins Buch oder aufs
Blatt; wollte ich mir aber eine aͤhnliche Frey¬
heit gegen ſie herausnehmen, ſo wich ſie und
kam ſobald nicht wieder. Doch wiederholte
ſie oft dieſe Stellung, ſo wie alle ihre Geſten
und Bewegungen ſehr einfoͤrmig waren, aber
immer gleich gehoͤrig, ſchoͤn und reizend. Al¬
lein jene Vertraulichkeit habe ich ſie gegen
Niemanden weiter ausuͤben ſehen.

Eine der unſchuldigſten und zugleich unter¬
haltendſten Luſtpartieen, die ich mit verſchie¬
denen Geſellſchaften junger Leute unternahm,
war, daß wir uns in das Hoͤchſter Markt¬
ſchiff ſetzten, die darin eingepackten ſeltſamen
Paſſagiere beobachteten und uns bald mit
dieſem bald mit jenem, wie uns Luſt oder
Muthwille trieb, ſcherzhaft und neckend ein¬
ließen. Zu Hoͤchſt ſtiegen wir aus, wo zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0432" n="416"/>
rung: nur &#x017F;etzte &#x017F;ie &#x017F;ich manchmal neben mich,<lb/>
be&#x017F;onders wenn ich &#x017F;chrieb oder vorlas, und<lb/>
dann legte &#x017F;ie mir vertraulich den Arm auf<lb/>
die Schulter, &#x017F;ah mir ins Buch oder aufs<lb/>
Blatt; wollte ich mir aber eine a&#x0364;hnliche Frey¬<lb/>
heit gegen &#x017F;ie herausnehmen, &#x017F;o wich &#x017F;ie und<lb/>
kam &#x017F;obald nicht wieder. Doch wiederholte<lb/>
&#x017F;ie oft die&#x017F;e Stellung, &#x017F;o wie alle ihre Ge&#x017F;ten<lb/>
und Bewegungen &#x017F;ehr einfo&#x0364;rmig waren, aber<lb/>
immer gleich geho&#x0364;rig, &#x017F;cho&#x0364;n und reizend. Al¬<lb/>
lein jene Vertraulichkeit habe ich &#x017F;ie gegen<lb/>
Niemanden weiter ausu&#x0364;ben &#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Eine der un&#x017F;chuldig&#x017F;ten und zugleich unter¬<lb/>
haltend&#x017F;ten Lu&#x017F;tpartieen, die ich mit ver&#x017F;chie¬<lb/>
denen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften junger Leute unternahm,<lb/>
war, daß wir uns in das Ho&#x0364;ch&#x017F;ter Markt¬<lb/>
&#x017F;chiff &#x017F;etzten, die darin eingepackten &#x017F;elt&#x017F;amen<lb/>
Pa&#x017F;&#x017F;agiere beobachteten und uns bald mit<lb/>
die&#x017F;em bald mit jenem, wie uns Lu&#x017F;t oder<lb/>
Muthwille trieb, &#x017F;cherzhaft und neckend ein¬<lb/>
ließen. Zu Ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;tiegen wir aus, wo zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[416/0432] rung: nur ſetzte ſie ſich manchmal neben mich, beſonders wenn ich ſchrieb oder vorlas, und dann legte ſie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, ſah mir ins Buch oder aufs Blatt; wollte ich mir aber eine aͤhnliche Frey¬ heit gegen ſie herausnehmen, ſo wich ſie und kam ſobald nicht wieder. Doch wiederholte ſie oft dieſe Stellung, ſo wie alle ihre Geſten und Bewegungen ſehr einfoͤrmig waren, aber immer gleich gehoͤrig, ſchoͤn und reizend. Al¬ lein jene Vertraulichkeit habe ich ſie gegen Niemanden weiter ausuͤben ſehen. Eine der unſchuldigſten und zugleich unter¬ haltendſten Luſtpartieen, die ich mit verſchie¬ denen Geſellſchaften junger Leute unternahm, war, daß wir uns in das Hoͤchſter Markt¬ ſchiff ſetzten, die darin eingepackten ſeltſamen Paſſagiere beobachteten und uns bald mit dieſem bald mit jenem, wie uns Luſt oder Muthwille trieb, ſcherzhaft und neckend ein¬ ließen. Zu Hoͤchſt ſtiegen wir aus, wo zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/432
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/432>, abgerufen am 02.09.2024.