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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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stige Wendung. Die Natur scheint zu wol¬
len, daß ein Geschlecht in dem andern das
Gute und Schöne sinnlich gewahr werde.
Und so war auch mir durch den Anblick die¬
ses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr,
eine neue Welt des Schönen und Vortreffli¬
chen aufgegangen. Ich las meine poetische
Epistel hundertmal durch, beschaute die Un¬
terschrift, küßte sie, drückte sie an mein Herz
und freute mich dieses liebenswürdigen Be¬
kenntnisses. Je mehr sich aber mein Ent¬
zücken steigerte, desto weher that es mir, sie
nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder
sehen und sprechen zu können: denn ich fürch¬
tete die Vorwürfe der Vettern und ihre Zu¬
dringlichkeit. Den guten Pylades, der die
Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬
zutreffen. Ich machte mich daher den näch¬
sten Sonntag auf nach Niederrad, wo¬
hin jene Gesellen gewöhnlich zu gehen pfleg¬
ten, und fand sie auch wirklich. Sehr ver¬
wundert war ich jedoch, da sie mir, anstatt

ſtige Wendung. Die Natur ſcheint zu wol¬
len, daß ein Geſchlecht in dem andern das
Gute und Schoͤne ſinnlich gewahr werde.
Und ſo war auch mir durch den Anblick die¬
ſes Maͤdchens, durch meine Neigung zu ihr,
eine neue Welt des Schoͤnen und Vortreffli¬
chen aufgegangen. Ich las meine poetiſche
Epiſtel hundertmal durch, beſchaute die Un¬
terſchrift, kuͤßte ſie, druͤckte ſie an mein Herz
und freute mich dieſes liebenswuͤrdigen Be¬
kenntniſſes. Je mehr ſich aber mein Ent¬
zuͤcken ſteigerte, deſto weher that es mir, ſie
nicht unmittelbar beſuchen, ſie nicht wieder
ſehen und ſprechen zu koͤnnen: denn ich fuͤrch¬
tete die Vorwuͤrfe der Vettern und ihre Zu¬
dringlichkeit. Den guten Pylades, der die
Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬
zutreffen. Ich machte mich daher den naͤch¬
ſten Sonntag auf nach Niederrad, wo¬
hin jene Geſellen gewoͤhnlich zu gehen pfleg¬
ten, und fand ſie auch wirklich. Sehr ver¬
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[405/0421] ſtige Wendung. Die Natur ſcheint zu wol¬ len, daß ein Geſchlecht in dem andern das Gute und Schoͤne ſinnlich gewahr werde. Und ſo war auch mir durch den Anblick die¬ ſes Maͤdchens, durch meine Neigung zu ihr, eine neue Welt des Schoͤnen und Vortreffli¬ chen aufgegangen. Ich las meine poetiſche Epiſtel hundertmal durch, beſchaute die Un¬ terſchrift, kuͤßte ſie, druͤckte ſie an mein Herz und freute mich dieſes liebenswuͤrdigen Be¬ kenntniſſes. Je mehr ſich aber mein Ent¬ zuͤcken ſteigerte, deſto weher that es mir, ſie nicht unmittelbar beſuchen, ſie nicht wieder ſehen und ſprechen zu koͤnnen: denn ich fuͤrch¬ tete die Vorwuͤrfe der Vettern und ihre Zu¬ dringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht an¬ zutreffen. Ich machte mich daher den naͤch¬ ſten Sonntag auf nach Niederrad, wo¬ hin jene Geſellen gewoͤhnlich zu gehen pfleg¬ ten, und fand ſie auch wirklich. Sehr ver¬ wundert war ich jedoch, da ſie mir, anſtatt

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/421>, abgerufen am 02.09.2024.