Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Vielleicht möchte Jemand fragen, warum
ich diese allgemein bekannten, so oft wieder¬
holten und ausgelegten Geschichten hier aber¬
mals umständlich vortrage. Diesem dürfte
zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬
dere Weise darzustellen wüßte, wie ich bey
meinem zerstreuten Leben, bey meinem zer¬
stückelten Lernen, dennoch meinen Geist,
meine Gefühle auf einen Punct zu einer
stillen Wirkung versammelte; weil ich auf
keine andere Weise den Frieden zu schildern
vermöchte, der mich umgab, wenn es auch
draußen noch so wild und wunderlich herging.
Wenn eine stets geschäftige Einbildungskraft,
wovon jenes Mährchen ein Zeugniß ablegen
mag, mich bald da bald dorthin führte,
wenn das Gemisch von Fabel und Geschichte,
Mythologie und Religion mich zu verwirren
drohte; so flüchtete ich gern nach jenen mor¬
genländischen Gegenden, ich versenkte mich in
die ersten Bücher Mosis, und fand mich
dort unter den ausgebreiteten Hirtenstämmen

Vielleicht moͤchte Jemand fragen, warum
ich dieſe allgemein bekannten, ſo oft wieder¬
holten und ausgelegten Geſchichten hier aber¬
mals umſtaͤndlich vortrage. Dieſem duͤrfte
zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬
dere Weiſe darzuſtellen wuͤßte, wie ich bey
meinem zerſtreuten Leben, bey meinem zer¬
ſtuͤckelten Lernen, dennoch meinen Geiſt,
meine Gefuͤhle auf einen Punct zu einer
ſtillen Wirkung verſammelte; weil ich auf
keine andere Weiſe den Frieden zu ſchildern
vermoͤchte, der mich umgab, wenn es auch
draußen noch ſo wild und wunderlich herging.
Wenn eine ſtets geſchaͤftige Einbildungskraft,
wovon jenes Maͤhrchen ein Zeugniß ablegen
mag, mich bald da bald dorthin fuͤhrte,
wenn das Gemiſch von Fabel und Geſchichte,
Mythologie und Religion mich zu verwirren
drohte; ſo fluͤchtete ich gern nach jenen mor¬
genlaͤndiſchen Gegenden, ich verſenkte mich in
die erſten Buͤcher Moſis, und fand mich
dort unter den ausgebreiteten Hirtenſtaͤmmen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0343" n="327"/>
        <p>Vielleicht mo&#x0364;chte Jemand fragen, warum<lb/>
ich die&#x017F;e allgemein bekannten, &#x017F;o oft wieder¬<lb/>
holten und ausgelegten Ge&#x017F;chichten hier aber¬<lb/>
mals um&#x017F;ta&#x0364;ndlich vortrage. Die&#x017F;em du&#x0364;rfte<lb/>
zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬<lb/>
dere Wei&#x017F;e darzu&#x017F;tellen wu&#x0364;ßte, wie ich bey<lb/>
meinem zer&#x017F;treuten Leben, bey meinem zer¬<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;ckelten Lernen, dennoch meinen Gei&#x017F;t,<lb/>
meine Gefu&#x0364;hle auf einen Punct zu einer<lb/>
&#x017F;tillen Wirkung ver&#x017F;ammelte; weil ich auf<lb/>
keine andere Wei&#x017F;e den Frieden zu &#x017F;childern<lb/>
vermo&#x0364;chte, der mich umgab, wenn es auch<lb/>
draußen noch &#x017F;o wild und wunderlich herging.<lb/>
Wenn eine &#x017F;tets ge&#x017F;cha&#x0364;ftige Einbildungskraft,<lb/>
wovon jenes Ma&#x0364;hrchen ein Zeugniß ablegen<lb/>
mag, mich bald da bald dorthin fu&#x0364;hrte,<lb/>
wenn das Gemi&#x017F;ch von Fabel und Ge&#x017F;chichte,<lb/>
Mythologie und Religion mich zu verwirren<lb/>
drohte; &#x017F;o flu&#x0364;chtete ich gern nach jenen mor¬<lb/>
genla&#x0364;ndi&#x017F;chen Gegenden, ich ver&#x017F;enkte mich in<lb/>
die er&#x017F;ten Bu&#x0364;cher Mo&#x017F;is, und fand mich<lb/>
dort unter den ausgebreiteten Hirten&#x017F;ta&#x0364;mmen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[327/0343] Vielleicht moͤchte Jemand fragen, warum ich dieſe allgemein bekannten, ſo oft wieder¬ holten und ausgelegten Geſchichten hier aber¬ mals umſtaͤndlich vortrage. Dieſem duͤrfte zur Antwort dienen, daß ich auf keine an¬ dere Weiſe darzuſtellen wuͤßte, wie ich bey meinem zerſtreuten Leben, bey meinem zer¬ ſtuͤckelten Lernen, dennoch meinen Geiſt, meine Gefuͤhle auf einen Punct zu einer ſtillen Wirkung verſammelte; weil ich auf keine andere Weiſe den Frieden zu ſchildern vermoͤchte, der mich umgab, wenn es auch draußen noch ſo wild und wunderlich herging. Wenn eine ſtets geſchaͤftige Einbildungskraft, wovon jenes Maͤhrchen ein Zeugniß ablegen mag, mich bald da bald dorthin fuͤhrte, wenn das Gemiſch von Fabel und Geſchichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte; ſo fluͤchtete ich gern nach jenen mor¬ genlaͤndiſchen Gegenden, ich verſenkte mich in die erſten Buͤcher Moſis, und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenſtaͤmmen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/343
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/343>, abgerufen am 24.07.2024.