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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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ca auch seine Kameele. Er beschenkt sie, er
freyet um sie, die ihm nicht versagt wird.
So führt er sie in das Haus seines Herrn, und
sie wird Isaak angetraut. Auch hier muß
die Nachkommenschaft lange Zeit erwartet wer¬
den. Erst nach einigen Prüfungsjahren wird
Rebecca gesegnet, und derselbe Zwiespalt, der
in Abrahams Doppelehe von zwey Müttern
entstand, entspringt hier von einer. Zwey
Knaben von entgegengesetztem Sinne balgen
sich schon unter dem Herzen der Mutter. Sie
treten ans Licht: der ältere lebhaft und mächtig,
der jüngere zart und klug; jener wird des Va¬
ters, dieser der Mutter Liebling. Der Streit
um den Vorrang, der schon bey der Geburt
beginnt, setzt sich immer fort. Esau ist ruhig
und gleichgültig über die Erstgeburt, die ihm
das Schicksal zugetheilt; Jakob vergißt nicht,
daß ihn sein Bruder zurückgedrängt. Aufmerk¬
sam auf jede Gelegenheit den erwünschten
Vortheil zu gewinnen, handelt er seinem Bru¬
der das Recht der Erstgeburt ab, und bevor¬

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ca auch ſeine Kameele. Er beſchenkt ſie, er
freyet um ſie, die ihm nicht verſagt wird.
So fuͤhrt er ſie in das Haus ſeines Herrn, und
ſie wird Iſaak angetraut. Auch hier muß
die Nachkommenſchaft lange Zeit erwartet wer¬
den. Erſt nach einigen Pruͤfungsjahren wird
Rebecca geſegnet, und derſelbe Zwieſpalt, der
in Abrahams Doppelehe von zwey Muͤttern
entſtand, entſpringt hier von einer. Zwey
Knaben von entgegengeſetztem Sinne balgen
ſich ſchon unter dem Herzen der Mutter. Sie
treten ans Licht: der aͤltere lebhaft und maͤchtig,
der juͤngere zart und klug; jener wird des Va¬
ters, dieſer der Mutter Liebling. Der Streit
um den Vorrang, der ſchon bey der Geburt
beginnt, ſetzt ſich immer fort. Eſau iſt ruhig
und gleichguͤltig uͤber die Erſtgeburt, die ihm
das Schickſal zugetheilt; Jakob vergißt nicht,
daß ihn ſein Bruder zuruͤckgedraͤngt. Aufmerk¬
ſam auf jede Gelegenheit den erwuͤnſchten
Vortheil zu gewinnen, handelt er ſeinem Bru¬
der das Recht der Erſtgeburt ab, und bevor¬

l. 21
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[321/0337] ca auch ſeine Kameele. Er beſchenkt ſie, er freyet um ſie, die ihm nicht verſagt wird. So fuͤhrt er ſie in das Haus ſeines Herrn, und ſie wird Iſaak angetraut. Auch hier muß die Nachkommenſchaft lange Zeit erwartet wer¬ den. Erſt nach einigen Pruͤfungsjahren wird Rebecca geſegnet, und derſelbe Zwieſpalt, der in Abrahams Doppelehe von zwey Muͤttern entſtand, entſpringt hier von einer. Zwey Knaben von entgegengeſetztem Sinne balgen ſich ſchon unter dem Herzen der Mutter. Sie treten ans Licht: der aͤltere lebhaft und maͤchtig, der juͤngere zart und klug; jener wird des Va¬ ters, dieſer der Mutter Liebling. Der Streit um den Vorrang, der ſchon bey der Geburt beginnt, ſetzt ſich immer fort. Eſau iſt ruhig und gleichguͤltig uͤber die Erſtgeburt, die ihm das Schickſal zugetheilt; Jakob vergißt nicht, daß ihn ſein Bruder zuruͤckgedraͤngt. Aufmerk¬ ſam auf jede Gelegenheit den erwuͤnſchten Vortheil zu gewinnen, handelt er ſeinem Bru¬ der das Recht der Erſtgeburt ab, und bevor¬ l. 21

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/337>, abgerufen am 28.11.2024.