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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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kaum ein Tag, daß der Dolmetscher nicht
eine oder die andere solche Anecdote uns und
der Mutter zur Aufheiterung erzählte. Es
hatte dieser muntere Mann eine kleine Samm¬
lung solcher Salomonischen Entscheidungen ge¬
macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬
drucks im Allgemeinen, ohne im Gedächtniß
ein Besonderes wieder zu finden.

Den wunderbaren Character des Grafen
lernte man nach und nach immer mehr kennen.
Dieser Mann war sich selbst, seiner Eigen¬
heiten aufs deutlichste bewußt, und weil er ge¬
wisse Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art
von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man
den bösen Dämon nennen soll, überfiel; so zog
er sich in solchen Stunden, die sich manchmal
zu Tagen verlängerten, in sein Zimmer zurück,
sah Niemanden als seinen Cammerdiener,
und war selbst in dringenden Fällen nicht zu
bewegen, daß er Audienz gegeben hätte. So¬
bald aber der böse Geist von ihm gewichen

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kaum ein Tag, daß der Dolmetſcher nicht
eine oder die andere ſolche Anecdote uns und
der Mutter zur Aufheiterung erzaͤhlte. Es
hatte dieſer muntere Mann eine kleine Samm¬
lung ſolcher Salomoniſchen Entſcheidungen ge¬
macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬
drucks im Allgemeinen, ohne im Gedaͤchtniß
ein Beſonderes wieder zu finden.

Den wunderbaren Character des Grafen
lernte man nach und nach immer mehr kennen.
Dieſer Mann war ſich ſelbſt, ſeiner Eigen¬
heiten aufs deutlichſte bewußt, und weil er ge¬
wiſſe Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art
von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man
den boͤſen Daͤmon nennen ſoll, uͤberfiel; ſo zog
er ſich in ſolchen Stunden, die ſich manchmal
zu Tagen verlaͤngerten, in ſein Zimmer zuruͤck,
ſah Niemanden als ſeinen Cammerdiener,
und war ſelbſt in dringenden Faͤllen nicht zu
bewegen, daß er Audienz gegeben haͤtte. So¬
bald aber der boͤſe Geiſt von ihm gewichen

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[195/0211] kaum ein Tag, daß der Dolmetſcher nicht eine oder die andere ſolche Anecdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzaͤhlte. Es hatte dieſer muntere Mann eine kleine Samm¬ lung ſolcher Salomoniſchen Entſcheidungen ge¬ macht; ich erinnere mich aber nur des Ein¬ drucks im Allgemeinen, ohne im Gedaͤchtniß ein Beſonderes wieder zu finden. Den wunderbaren Character des Grafen lernte man nach und nach immer mehr kennen. Dieſer Mann war ſich ſelbſt, ſeiner Eigen¬ heiten aufs deutlichſte bewußt, und weil er ge¬ wiſſe Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von Unmuth, Hypochondrie, oder wie man den boͤſen Daͤmon nennen ſoll, uͤberfiel; ſo zog er ſich in ſolchen Stunden, die ſich manchmal zu Tagen verlaͤngerten, in ſein Zimmer zuruͤck, ſah Niemanden als ſeinen Cammerdiener, und war ſelbſt in dringenden Faͤllen nicht zu bewegen, daß er Audienz gegeben haͤtte. So¬ bald aber der boͤſe Geiſt von ihm gewichen 195 13 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/211>, abgerufen am 28.11.2024.