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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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besonders die zu seiner Zeit nach und nach
heraufgekommenen und gerühmten Dichter ge¬
funden. Alle diese hatten gereimt, und mein
Vater hielt den Reim für poetische Werke
unerläßlich. Canitz, Hagedorn, Drol¬
linger
, Gellert, Kreutz, Haller stan¬
den in schönen Franzbänden in einer Reihe.
An diese schlossen sich Neukirch's Tele¬
mach, Koppen's befreytes Jerusalem, und
andre Uebersetzungen. Ich hatte diese sämmt¬
lichen Bände von Kindheit auf fleißig durch¬
gelesen und theilweise memorirt, weshalb ich
denn zur Unterhaltung der Gesellschaft öfters
aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche
im Gegentheil eröffnete sich für meinen Va¬
ter, als durch Klopstocks Messias, Verse die
ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand
der öffentlichen Bewunderung wurden. Er
selbst hatte sich wohl gehütet dieses Werk an¬
zuschaffen; aber unser Hausfreund, Rath
Schneider, schwärzte es ein und steckte es
der Mutter und den Kindern zu.

beſonders die zu ſeiner Zeit nach und nach
heraufgekommenen und geruͤhmten Dichter ge¬
funden. Alle dieſe hatten gereimt, und mein
Vater hielt den Reim fuͤr poetiſche Werke
unerlaͤßlich. Canitz, Hagedorn, Drol¬
linger
, Gellert, Kreutz, Haller ſtan¬
den in ſchoͤnen Franzbaͤnden in einer Reihe.
An dieſe ſchloſſen ſich Neukirch's Tele¬
mach, Koppen's befreytes Jeruſalem, und
andre Ueberſetzungen. Ich hatte dieſe ſaͤmmt¬
lichen Baͤnde von Kindheit auf fleißig durch¬
geleſen und theilweiſe memorirt, weshalb ich
denn zur Unterhaltung der Geſellſchaft oͤfters
aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche
im Gegentheil eroͤffnete ſich fuͤr meinen Va¬
ter, als durch Klopſtocks Meſſias, Verſe die
ihm keine Verſe ſchienen, ein Gegenſtand
der oͤffentlichen Bewunderung wurden. Er
ſelbſt hatte ſich wohl gehuͤtet dieſes Werk an¬
zuſchaffen; aber unſer Hausfreund, Rath
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der Mutter und den Kindern zu.

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[175/0191] beſonders die zu ſeiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und geruͤhmten Dichter ge¬ funden. Alle dieſe hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim fuͤr poetiſche Werke unerlaͤßlich. Canitz, Hagedorn, Drol¬ linger, Gellert, Kreutz, Haller ſtan¬ den in ſchoͤnen Franzbaͤnden in einer Reihe. An dieſe ſchloſſen ſich Neukirch's Tele¬ mach, Koppen's befreytes Jeruſalem, und andre Ueberſetzungen. Ich hatte dieſe ſaͤmmt¬ lichen Baͤnde von Kindheit auf fleißig durch¬ geleſen und theilweiſe memorirt, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Geſellſchaft oͤfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegentheil eroͤffnete ſich fuͤr meinen Va¬ ter, als durch Klopſtocks Meſſias, Verſe die ihm keine Verſe ſchienen, ein Gegenſtand der oͤffentlichen Bewunderung wurden. Er ſelbſt hatte ſich wohl gehuͤtet dieſes Werk an¬ zuſchaffen; aber unſer Hausfreund, Rath Schneider, ſchwaͤrzte es ein und ſteckte es der Mutter und den Kindern zu.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/191>, abgerufen am 18.12.2024.