Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Ein Schauspiel. Der Brudermord ist hergebrachte SitteDes alten Stammes; und ich danke, Götter, Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten Beschlossen habt. Und laß dir rathen, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Komm, folge mir in's dunkle Reich hinab! Wie sich vom Schwefelpfuhl' erzeugte Drachen Bekämpfend die verwandte Brut verschlingen, Zerstört sich selbst das wüthende Geschlecht; Komm kinderlos und schuldlos mit hinab! Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab! Mit solchen Blicken suchte Klytemnestra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Doch sein geschwung'ner Arm traf ihre Brust. Die Mutter fiel! -- Tritt auf, unwill'ger Geist! Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien, Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bey, Dem letzten, gräßlichsten, das ihr bereitet! Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch; Die liebevolle Schwester wird zur That Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht Schuld. Ein Schauſpiel. Der Brudermord iſt hergebrachte SitteDes alten Stammes; und ich danke, Götter, Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten Beſchloſſen habt. Und laß dir rathen, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Komm, folge mir in’s dunkle Reich hinab! Wie ſich vom Schwefelpfuhl’ erzeugte Drachen Bekämpfend die verwandte Brut verſchlingen, Zerſtört ſich ſelbſt das wüthende Geſchlecht; Komm kinderlos und ſchuldlos mit hinab! Du ſiehſt mich mit Erbarmen an? Laß ab! Mit ſolchen Blicken ſuchte Klytemneſtra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Doch ſein geſchwung’ner Arm traf ihre Bruſt. Die Mutter fiel! — Tritt auf, unwill’ger Geiſt! Im Kreis geſchloſſen tretet an, ihr Furien, Und wohnet dem willkommnen Schauſpiel bey, Dem letzten, gräßlichſten, das ihr bereitet! Nicht Haß und Rache ſchärfen ihren Dolch; Die liebevolle Schweſter wird zur That Gezwungen. Weine nicht! Du haſt nicht Schuld. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#ORE"> <p><pb facs="#f0084" n="75"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ein Schauſpiel.</hi></fw><lb/> Der Brudermord iſt hergebrachte Sitte<lb/> Des alten Stammes; und ich danke, Götter,<lb/> Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten<lb/> Beſchloſſen habt. Und laß dir rathen, habe<lb/> Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;<lb/> Komm, folge mir in’s dunkle Reich hinab!<lb/> Wie ſich vom Schwefelpfuhl’ erzeugte Drachen<lb/> Bekämpfend die verwandte Brut verſchlingen,<lb/> Zerſtört ſich ſelbſt das wüthende Geſchlecht;<lb/> Komm kinderlos und ſchuldlos mit hinab!<lb/> Du ſiehſt mich mit Erbarmen an? Laß ab!<lb/> Mit ſolchen Blicken ſuchte Klytemneſtra<lb/> Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;<lb/> Doch ſein geſchwung’ner Arm traf ihre Bruſt.<lb/> Die Mutter fiel! — Tritt auf, unwill’ger<lb/> Geiſt!<lb/> Im Kreis geſchloſſen tretet an, ihr Furien,<lb/> Und wohnet dem willkommnen Schauſpiel bey,<lb/> Dem letzten, gräßlichſten, das ihr bereitet!<lb/> Nicht Haß und Rache ſchärfen ihren Dolch;<lb/> Die liebevolle Schweſter wird zur That<lb/> Gezwungen. Weine nicht! Du haſt nicht<lb/> Schuld.<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0084]
Ein Schauſpiel.
Der Brudermord iſt hergebrachte Sitte
Des alten Stammes; und ich danke, Götter,
Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten
Beſchloſſen habt. Und laß dir rathen, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;
Komm, folge mir in’s dunkle Reich hinab!
Wie ſich vom Schwefelpfuhl’ erzeugte Drachen
Bekämpfend die verwandte Brut verſchlingen,
Zerſtört ſich ſelbſt das wüthende Geſchlecht;
Komm kinderlos und ſchuldlos mit hinab!
Du ſiehſt mich mit Erbarmen an? Laß ab!
Mit ſolchen Blicken ſuchte Klytemneſtra
Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;
Doch ſein geſchwung’ner Arm traf ihre Bruſt.
Die Mutter fiel! — Tritt auf, unwill’ger
Geiſt!
Im Kreis geſchloſſen tretet an, ihr Furien,
Und wohnet dem willkommnen Schauſpiel bey,
Dem letzten, gräßlichſten, das ihr bereitet!
Nicht Haß und Rache ſchärfen ihren Dolch;
Die liebevolle Schweſter wird zur That
Gezwungen. Weine nicht! Du haſt nicht
Schuld.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787/84 |
Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787/84>, abgerufen am 07.07.2024. |