Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Iphigenie auf Tauris Iphigenie. Es hört sie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Busen rein Und ungehindert fließt. -- Was sinnst du mir, O König, schweigend in der tiefen Seele? Ist es Verderben? so tödte mich zuerst! Denn nun empfind' ich, da uns keine Rettung Mehr übrig bleibt, die gräßliche Gefahr, Worein ich die Geliebten übereilt Vorsetzlich stürzte. Weh! ich werde sie Gebunden vor mir sehn! Mit welchen Blicken Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen, Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm Mehr in die vielgeliebten Augen schaun! Thoas. So haben die Betrüger künstlich-dichtend Der lang' Verschloßnen, ihre Wünsche leicht Und willig Glaubenden, ein solch Gespinnst Um's Haupt geworfen! Iphigenie auf Tauris Iphigenie. Es hört ſie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Buſen rein Und ungehindert fließt. — Was ſinnſt du mir, O König, ſchweigend in der tiefen Seele? Iſt es Verderben? ſo tödte mich zuerſt! Denn nun empfind’ ich, da uns keine Rettung Mehr übrig bleibt, die gräßliche Gefahr, Worein ich die Geliebten übereilt Vorſetzlich ſtürzte. Weh! ich werde ſie Gebunden vor mir ſehn! Mit welchen Blicken Kann ich von meinem Bruder Abſchied nehmen, Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm Mehr in die vielgeliebten Augen ſchaun! Thoas. So haben die Betrüger künſtlich-dichtend Der lang’ Verſchloßnen, ihre Wünſche leicht Und willig Glaubenden, ein ſolch Geſpinnſt Um’s Haupt geworfen! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0129" n="120"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Iphigenie auf Tauris</hi> </fw><lb/> <sp who="#IPH"> <speaker> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Iphigenie.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p><hi rendition="#et">Es hört ſie jeder,</hi><lb/> Geboren unter jedem Himmel, dem<lb/> Des Lebens Quelle durch den Buſen rein<lb/> Und ungehindert fließt. — Was ſinnſt du<lb/> mir,<lb/> O König, ſchweigend in der tiefen Seele?<lb/> Iſt es Verderben? ſo tödte mich zuerſt!<lb/> Denn nun empfind’ ich, da uns keine Rettung<lb/> Mehr übrig bleibt, die gräßliche Gefahr,<lb/> Worein ich die Geliebten übereilt<lb/> Vorſetzlich ſtürzte. Weh! ich werde ſie<lb/> Gebunden vor mir ſehn! Mit welchen Blicken<lb/> Kann ich von meinem Bruder Abſchied nehmen,<lb/> Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm<lb/> Mehr in die vielgeliebten Augen ſchaun!</p> </sp><lb/> <sp who="#THO"> <speaker> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Thoas.</hi> </hi> </speaker><lb/> <p>So haben die Betrüger künſtlich-dichtend<lb/> Der lang’ Verſchloßnen, ihre Wünſche leicht<lb/> Und willig Glaubenden, ein ſolch Geſpinnſt<lb/> Um’s Haupt geworfen!</p> </sp><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [120/0129]
Iphigenie auf Tauris
Iphigenie.
Es hört ſie jeder,
Geboren unter jedem Himmel, dem
Des Lebens Quelle durch den Buſen rein
Und ungehindert fließt. — Was ſinnſt du
mir,
O König, ſchweigend in der tiefen Seele?
Iſt es Verderben? ſo tödte mich zuerſt!
Denn nun empfind’ ich, da uns keine Rettung
Mehr übrig bleibt, die gräßliche Gefahr,
Worein ich die Geliebten übereilt
Vorſetzlich ſtürzte. Weh! ich werde ſie
Gebunden vor mir ſehn! Mit welchen Blicken
Kann ich von meinem Bruder Abſchied nehmen,
Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm
Mehr in die vielgeliebten Augen ſchaun!
Thoas.
So haben die Betrüger künſtlich-dichtend
Der lang’ Verſchloßnen, ihre Wünſche leicht
Und willig Glaubenden, ein ſolch Geſpinnſt
Um’s Haupt geworfen!
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787/129>, abgerufen am 16.02.2025. |