Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart, 1832.
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum In's weite Reich, ihm scheint's ein schwerer Traum, Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet, Das Ungesetz gesetzlich überwaltet, Und eine Welt des Irrthums sich entfaltet. Der raubt sich Heerden, der ein Weib, Kelch, Kreuz und Leuchter vom Altare, Berühmt sich dessen manche Jahre Mit heiler Haut, mit unverletztem Leib. Jetzt drängen Kläger sich zur Halle, Der Richter prunkt auf hohem Pfühl, Indessen wogt, in grimmigem Schwalle Des Aufruhrs wachsendes Gewühl. Der darf auf Schand' und Frevel pochen Der auf Mitschuldigste sich stützt, Und: Schuldig! hörst du ausgesprochen Wo Unschuld nur sich selber schützt. So will sich alle Welt zerstückeln, Vernichtigen was sich gebührt; Wie soll sich da der Sinn entwickeln Der einzig uns zum Rechten führt? Zuletzt ein wohlgesinnter Mann Neigt sich dem Schmeichler, dem Bestecher; Ein Richter, der nicht strafen kann, Gesellt sich endlich zum Verbrecher; Ich malte schwarz, doch dichtern Flor Zög ich dem Bilde lieber vor. (Pause.)
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum In’s weite Reich, ihm scheint’s ein schwerer Traum, Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet, Das Ungesetz gesetzlich überwaltet, Und eine Welt des Irrthums sich entfaltet. Der raubt sich Heerden, der ein Weib, Kelch, Kreuz und Leuchter vom Altare, Berühmt sich dessen manche Jahre Mit heiler Haut, mit unverletztem Leib. Jetzt drängen Kläger sich zur Halle, Der Richter prunkt auf hohem Pfühl, Indessen wogt, in grimmigem Schwalle Des Aufruhrs wachsendes Gewühl. Der darf auf Schand’ und Frevel pochen Der auf Mitschuldigste sich stützt, Und: Schuldig! hörst du ausgesprochen Wo Unschuld nur sich selber schützt. So will sich alle Welt zerstückeln, Vernichtigen was sich gebührt; Wie soll sich da der Sinn entwickeln Der einzig uns zum Rechten führt? Zuletzt ein wohlgesinnter Mann Neigt sich dem Schmeichler, dem Bestecher; Ein Richter, der nicht strafen kann, Gesellt sich endlich zum Verbrecher; Ich malte schwarz, doch dichtern Flor Zög ich dem Bilde lieber vor. (Pause.) <TEI> <text> <body> <div type="act" n="1"> <div type="scene" n="2"> <sp> <p><pb facs="#f0023" n="11"/> Wer schaut hinab von diesem hohen Raum<lb/> In’s weite Reich, ihm scheint’s ein schwerer Traum,<lb/> Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet,<lb/> Das Ungesetz gesetzlich überwaltet,<lb/> Und eine Welt des Irrthums sich entfaltet.<lb/></p><lb/> <p> Der raubt sich Heerden, der ein Weib,<lb/> Kelch, Kreuz und Leuchter vom Altare,<lb/> Berühmt sich dessen manche Jahre<lb/> Mit heiler Haut, mit unverletztem Leib.<lb/> Jetzt drängen Kläger sich zur Halle,<lb/> Der Richter prunkt auf hohem Pfühl,<lb/> Indessen wogt, in grimmigem Schwalle<lb/> Des Aufruhrs wachsendes Gewühl.<lb/> Der darf auf Schand’ und Frevel pochen<lb/> Der auf Mitschuldigste sich stützt,<lb/> Und: Schuldig! hörst du ausgesprochen<lb/> Wo Unschuld nur sich selber schützt.<lb/> So will sich alle Welt zerstückeln,<lb/> Vernichtigen was sich gebührt;<lb/> Wie soll sich da der Sinn entwickeln<lb/> Der einzig uns zum Rechten führt?<lb/> Zuletzt ein wohlgesinnter Mann<lb/> Neigt sich dem Schmeichler, dem Bestecher;<lb/> Ein Richter, der nicht strafen kann,<lb/> Gesellt sich endlich zum Verbrecher;<lb/> Ich malte schwarz, doch dichtern Flor<lb/> Zög ich dem Bilde lieber vor.<lb/></p> <stage> <hi rendition="#c">(Pause.)</hi> </stage><lb/> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [11/0023]
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum
In’s weite Reich, ihm scheint’s ein schwerer Traum,
Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet,
Das Ungesetz gesetzlich überwaltet,
Und eine Welt des Irrthums sich entfaltet.
Der raubt sich Heerden, der ein Weib,
Kelch, Kreuz und Leuchter vom Altare,
Berühmt sich dessen manche Jahre
Mit heiler Haut, mit unverletztem Leib.
Jetzt drängen Kläger sich zur Halle,
Der Richter prunkt auf hohem Pfühl,
Indessen wogt, in grimmigem Schwalle
Des Aufruhrs wachsendes Gewühl.
Der darf auf Schand’ und Frevel pochen
Der auf Mitschuldigste sich stützt,
Und: Schuldig! hörst du ausgesprochen
Wo Unschuld nur sich selber schützt.
So will sich alle Welt zerstückeln,
Vernichtigen was sich gebührt;
Wie soll sich da der Sinn entwickeln
Der einzig uns zum Rechten führt?
Zuletzt ein wohlgesinnter Mann
Neigt sich dem Schmeichler, dem Bestecher;
Ein Richter, der nicht strafen kann,
Gesellt sich endlich zum Verbrecher;
Ich malte schwarz, doch dichtern Flor
Zög ich dem Bilde lieber vor.
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Stuttgart, 1832, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust02_1832/23>, abgerufen am 16.07.2024. |