Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. Tübingen, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen,
Der Kranich nach der Heimat strebt.
Wagner.
Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,
Doch solchen Trieb hab' ich noch nie empfunden.
Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt,
Des Vogels Fittig werd' ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden,
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen;
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.
Faust.
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,
O lerne nie den andern kennen!
Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Ihr ſchmetternd Lied die Lerche ſingt;
Wenn uͤber ſchroffen Fichtenhoͤhen
Der Adler ausgebreitet ſchwebt,
Und uͤber Flaͤchen, uͤber Seen,
Der Kranich nach der Heimat ſtrebt.
Wagner.
Ich hatte ſelbſt oft grillenhafte Stunden,
Doch ſolchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden.
Man ſieht ſich leicht an Wald und Feldern ſatt,
Des Vogels Fittig werd’ ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geiſtesfreuden,
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternaͤchte hold und ſchoͤn,
Ein ſelig Leben waͤrmet alle Glieder,
Und ach! entrollſt du gar ein wuͤrdig Pergamen;
So ſteigt der ganze Himmel zu dir nieder.
Fauſt.
Du biſt dir nur des einen Triebs bewußt,
O lerne nie den andern kennen!
Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Bruſt,
Die eine will ſich von der andern trennen;
Die eine haͤlt, in derber Liebesluſt,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <sp who="#FAU">
            <p><pb facs="#f0079" n="73"/>
Ihr &#x017F;chmetternd Lied die Lerche &#x017F;ingt;<lb/>
Wenn u&#x0364;ber &#x017F;chroffen Fichtenho&#x0364;hen<lb/>
Der Adler ausgebreitet &#x017F;chwebt,<lb/>
Und u&#x0364;ber Fla&#x0364;chen, u&#x0364;ber Seen,<lb/>
Der Kranich nach der Heimat &#x017F;trebt.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#WAG">
            <speaker><hi rendition="#g">Wagner</hi>.</speaker><lb/>
            <p>Ich hatte &#x017F;elb&#x017F;t oft grillenhafte Stunden,<lb/>
Doch &#x017F;olchen Trieb hab&#x2019; ich noch nie empfunden.<lb/>
Man &#x017F;ieht &#x017F;ich leicht an Wald und Feldern &#x017F;att,<lb/>
Des Vogels Fittig werd&#x2019; ich nie beneiden.<lb/>
Wie anders tragen uns die Gei&#x017F;tesfreuden,<lb/>
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!<lb/>
Da werden Winterna&#x0364;chte hold und &#x017F;cho&#x0364;n,<lb/>
Ein &#x017F;elig Leben wa&#x0364;rmet alle Glieder,<lb/>
Und ach! entroll&#x017F;t du gar ein wu&#x0364;rdig Pergamen;<lb/>
So &#x017F;teigt der ganze Himmel zu dir nieder.</p>
          </sp><lb/>
          <sp who="#FAU">
            <speaker><hi rendition="#g">Fau&#x017F;t</hi>.</speaker><lb/>
            <p>Du bi&#x017F;t dir nur des einen Triebs bewußt,<lb/>
O lerne nie den andern kennen!<lb/>
Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Bru&#x017F;t,<lb/>
Die eine will &#x017F;ich von der andern trennen;<lb/>
Die eine ha&#x0364;lt, in derber Liebeslu&#x017F;t,<lb/></p>
          </sp>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0079] Ihr ſchmetternd Lied die Lerche ſingt; Wenn uͤber ſchroffen Fichtenhoͤhen Der Adler ausgebreitet ſchwebt, Und uͤber Flaͤchen, uͤber Seen, Der Kranich nach der Heimat ſtrebt. Wagner. Ich hatte ſelbſt oft grillenhafte Stunden, Doch ſolchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden. Man ſieht ſich leicht an Wald und Feldern ſatt, Des Vogels Fittig werd’ ich nie beneiden. Wie anders tragen uns die Geiſtesfreuden, Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt! Da werden Winternaͤchte hold und ſchoͤn, Ein ſelig Leben waͤrmet alle Glieder, Und ach! entrollſt du gar ein wuͤrdig Pergamen; So ſteigt der ganze Himmel zu dir nieder. Fauſt. Du biſt dir nur des einen Triebs bewußt, O lerne nie den andern kennen! Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Bruſt, Die eine will ſich von der andern trennen; Die eine haͤlt, in derber Liebesluſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust01_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust01_1808/79
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. Tübingen, 1808, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_faust01_1808/79>, abgerufen am 29.11.2024.