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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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mich am meisten gefördert, als ich die Gesetzmäßigkeit
der physiologischen Erscheinungen, die Bedeutsamkeit
der durch trübe Mittel hervorgebrachten, und endlich
die versatile Beständigkeit der chemischen Wirkungen und
Gegenwirkungen erkennen lernte. Hiernach bestimmte
sich die Eintheilung, der ich, weil ich sie als die be-
ste befunden, stets treu geblieben. Nun ließ sich oh-
ne Methode die Menge von Erfahrungen weder son-
dern noch verbinden; es wurden daher theoretische Er-
klärungsarten rege, und ich machte meinen Weg durch
manche hypothetische Irrthümer und Einseitigkeiten.
Doch ließ ich den überall sich wieder zeigenden Gegen-
satz, die einmal ausgesprochne Polarität nicht fahren,
und zwar um so weniger, als ich mich durch solche
Grundsätze im Stand fühlte, die Farbenlehre an man-
ches Benachbarte anzuschließen und mit manchem Ent-
fernten in Reihe zu stellen. Auf diese Weise ist der
gegenwärtige Entwurf einer Farbenlehre entstanden.

Nichts war natürlicher, als daß ich aufsuchte
was uns über diese Materie in Schriften überliefert
worden, und es von den ältesten Zeiten bis zu den
unsrigen nach und nach auszog und sammelte. Durch
eigene Aufmerksamkeit, durch guten Willen und Theil-
nahme mancher Freunde kamen mir auch die seltnern
Bücher in die Hände; doch nirgends bin ich auf ein-
mal soviel gefördert worden, als in Göttingen durch
den mit großer Liberalität und thätiger Beyhülfe gestat-
teten Gebrauch der unschätzbaren Büchersammlung. So
häufte sich allmählich eine große Masse von Abschriften

II. 44

mich am meiſten gefoͤrdert, als ich die Geſetzmaͤßigkeit
der phyſiologiſchen Erſcheinungen, die Bedeutſamkeit
der durch truͤbe Mittel hervorgebrachten, und endlich
die verſatile Beſtaͤndigkeit der chemiſchen Wirkungen und
Gegenwirkungen erkennen lernte. Hiernach beſtimmte
ſich die Eintheilung, der ich, weil ich ſie als die be-
ſte befunden, ſtets treu geblieben. Nun ließ ſich oh-
ne Methode die Menge von Erfahrungen weder ſon-
dern noch verbinden; es wurden daher theoretiſche Er-
klaͤrungsarten rege, und ich machte meinen Weg durch
manche hypothetiſche Irrthuͤmer und Einſeitigkeiten.
Doch ließ ich den uͤberall ſich wieder zeigenden Gegen-
ſatz, die einmal ausgeſprochne Polaritaͤt nicht fahren,
und zwar um ſo weniger, als ich mich durch ſolche
Grundſaͤtze im Stand fuͤhlte, die Farbenlehre an man-
ches Benachbarte anzuſchließen und mit manchem Ent-
fernten in Reihe zu ſtellen. Auf dieſe Weiſe iſt der
gegenwaͤrtige Entwurf einer Farbenlehre entſtanden.

Nichts war natuͤrlicher, als daß ich aufſuchte
was uns uͤber dieſe Materie in Schriften uͤberliefert
worden, und es von den aͤlteſten Zeiten bis zu den
unſrigen nach und nach auszog und ſammelte. Durch
eigene Aufmerkſamkeit, durch guten Willen und Theil-
nahme mancher Freunde kamen mir auch die ſeltnern
Buͤcher in die Haͤnde; doch nirgends bin ich auf ein-
mal ſoviel gefoͤrdert worden, als in Goͤttingen durch
den mit großer Liberalitaͤt und thaͤtiger Beyhuͤlfe geſtat-
teten Gebrauch der unſchaͤtzbaren Buͤcherſammlung. So
haͤufte ſich allmaͤhlich eine große Maſſe von Abſchriften

II. 44
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[689/0723] mich am meiſten gefoͤrdert, als ich die Geſetzmaͤßigkeit der phyſiologiſchen Erſcheinungen, die Bedeutſamkeit der durch truͤbe Mittel hervorgebrachten, und endlich die verſatile Beſtaͤndigkeit der chemiſchen Wirkungen und Gegenwirkungen erkennen lernte. Hiernach beſtimmte ſich die Eintheilung, der ich, weil ich ſie als die be- ſte befunden, ſtets treu geblieben. Nun ließ ſich oh- ne Methode die Menge von Erfahrungen weder ſon- dern noch verbinden; es wurden daher theoretiſche Er- klaͤrungsarten rege, und ich machte meinen Weg durch manche hypothetiſche Irrthuͤmer und Einſeitigkeiten. Doch ließ ich den uͤberall ſich wieder zeigenden Gegen- ſatz, die einmal ausgeſprochne Polaritaͤt nicht fahren, und zwar um ſo weniger, als ich mich durch ſolche Grundſaͤtze im Stand fuͤhlte, die Farbenlehre an man- ches Benachbarte anzuſchließen und mit manchem Ent- fernten in Reihe zu ſtellen. Auf dieſe Weiſe iſt der gegenwaͤrtige Entwurf einer Farbenlehre entſtanden. Nichts war natuͤrlicher, als daß ich aufſuchte was uns uͤber dieſe Materie in Schriften uͤberliefert worden, und es von den aͤlteſten Zeiten bis zu den unſrigen nach und nach auszog und ſammelte. Durch eigene Aufmerkſamkeit, durch guten Willen und Theil- nahme mancher Freunde kamen mir auch die ſeltnern Buͤcher in die Haͤnde; doch nirgends bin ich auf ein- mal ſoviel gefoͤrdert worden, als in Goͤttingen durch den mit großer Liberalitaͤt und thaͤtiger Beyhuͤlfe geſtat- teten Gebrauch der unſchaͤtzbaren Buͤcherſammlung. So haͤufte ſich allmaͤhlich eine große Maſſe von Abſchriften II. 44

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 689. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/723>, abgerufen am 22.11.2024.